Lebens- und Todesartist

Eine neue achtbändige Werkausgabe macht das größtenteils vergriffene Werk des Autors Hermann Burger (1942-1989) wieder greifbar

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am 28. Februar 1989 nahm sich der Schweizer Schriftsteller Hermann Burger an seinem Wohnort auf Schloss Brunegg das Leben. Er war erst 47 Jahre alt. 25 Jahre sind seitdem vergangen, in denen sein literarisches Renommee beim breiten Publikum verblasst ist. Am besten in Erinnerung geblieben sind Anekdoten und Kapriolen, allem voran sein feuerroter Ferrari „Mondial 3,2 Liter, 270 PS“. Der „Lebens- und Todesartist“ Burger war kein einfacher Zeitgenosse, er hat es zu Lebzeiten weder Freunden noch Feinden noch sich selbst einfach gemacht. Die Feinde mussten seine Sprachmacht und vielseitigen Talente anerkennen, die Freunde hatten seine Empfindlichkeiten auszuhalten.

Sich selbst schrieb Hermann Burger förmlich um Kopf und Kragen. Bereits die Suada des Lehrers Schildknecht im Roman „Schilten“ besitzt den mörderischen Doppelcharakter von „Gardinenpredigt und Selbstbezichtigung“, wie es der Autor Michel Mettler einmal nannte. Burger verhakte sich im fortwährenden Ringen mit Leben und Tod, beide waren sie für ihn im Schreiben aufgehoben, wie es im „Tractatus logico-suicidalis“, Mortologismus 296 heißt: „Das Werk ist die Lösung des Todesproblems.“

Burgers Werk setzt in den 1960er Jahren mit ersten Erzählungen und Gedichten ein, die freilich noch kaum Beachtung fanden. Eine Todesphantasie (und Abrechnung mit der „eisigen Mutter“) beschäftigt indes schon den jungen Autor. In „Kurzgefasster Lebenslauf“ von 1972 (Band 2 der neuen Werkausgabe) mutmaßt der Erzähler/Autor, dass er womöglich nie aus der Narkose erwacht sei, als er sich als Kind einer Operation unterziehen musste. Ist er noch nicht aufgewacht, oder weilt er längst im Jenseits? Auf jeden Fall könne das Erlebte gar nicht das Leben sein.

Zum ersten Mal öffentlich auf sich aufmerksam machte er 1976 mit seinem Roman „Schilten“ (Band 4), dem verklausulierten Schulbericht des Lehrers Schildknecht. Eine verstörende „Angstschwermut“ hängt über dieser verschachtelten Prosa. Schildknecht stülpt den Stundenplan um und erteilt seinen Zöglingen „Nacht- und Nebelunterricht“ oder „Friedhofskunde“ anstatt fader Pöstlergeographie.

Am Thema des Todes als Teil des Lebens selbst schrieb Burger konsequent weiter. 1982 erweiterte er es im Roman „Die Künstliche Mutter“ (Band 5) um die unaufgehobene Sehnsucht nach mütterlicher Geborgenheit und nach Linderung seiner (existentiellen) Krankheit. In den Kavernen des Gotthards findet der gewesene ETH-Dozent Schöllkopf Wärme und Genesung von seiner „Unterleibsmigräne“. Dennoch entkommt er dem Dunstkreis des Todes nicht, ebenso wenig der Autor, der dem Kernthema auch in den folgenden Erzählungen treu bleibt, bis es schließlich im „Tractatus logico-suicidalis“ (1988) kulminiert (Band 8).

Im Nebenberuf hatte Hermann Burger zeitweilig als Privatdozent für deutsche Literatur an der ETH Zürich und an der Höheren Pädagogischen Lehranstalt des Kantons Aargau gelehrt, und 17 Jahre lang war er Feuilletonredakteur beim Aargauer Tagblatt. Diese Tätigkeiten beeinflussten sein Schaffen zweifach: Zum einen entlasteten sie ihn davor, mit seiner Literatur Geld verdienen zu müssen, zum andern definierten sie maßgeblich seine mal filigrane, mal überschießende Prosa, die geradezu strotzte vor literarischen Verwandtschaften und Anspielungen.

Burger war ein ins Wort Vernarrter, der seine komplexen Gedankenlabyrinthe gerne und üppig mit theoretischen Aberrationen und lautmalerischer Fachterminologie garnierte. Dabei kreiste (fast) alles um das Zentrum der drei „hohen C“ seiner Kunst und seines Lebens: das Cimiterische, das Cigarristische und das Circensische. Kurzum: Tod, Zigarren und Zauberei. Letzteres betrieb Burger mit einigem Geschick. In der „Brenner“-Trilogie (Band 6), von der nur der erste und unvollendet der zweite Band vorliegt, gelangt der circensisch-cigarristische Rausch zu einem Höhepunkt. Brenner / Burger findet in der „trockenen Trunkenheit“ den einzigen und letzten Trostspender angesichts der trüben Depression, die ihn immer wieder heimsuchte. Von euphorischen Schüben unterbrochen ist eine einsam anklagende Verzweiflung darüber spürbar, dass er in seiner Krankheit von allen Menschen verlassen worden sei. Die zu Beginn noch sorgsam zurechtgelegte Distanz zwischen Figur und Autor, Brenner und Burger, verflüssigt sich zunehmend.

Nebst den streng komponierten, verschachtelten Satzgefügen fordern vor allem die inflationär kreierten Wortklone und Begriffszwitter den Lesern alles ab. In „Diabelli“ (Band 2) heißt es: „Die Fremdwörter-Orgien sind meine Marotte, um für gewisse Phänomene Begrifflichkeit zu schaffen.“ In der Tat war Hermann Burger ein virtuoser Sprachzauberer, der darin Eigenart und Originalität verrät. In seinen Frankfurter Poetik-Vorlesungen 1986 bemerkte er, dass ihm die Sprache als Mikroskop diene, das die Realität vergrößert und zugleich verfremdet. Damit kann er „einen Gegenstand mit Wörtern anpacken, bis er sein wahres Gesicht zeigt“. Sprache besitzt für Burger „die Hieb- und Schnittkraft einer Axt“, sie ist fähig, „das gefrorene Meer in uns zu spalten“. Obendrein besitzt sie Witz, den Burger mit seinem schrägen Humor zum Schillern bringt.

Es versteht sich von selbst, dass eine solche Obsession latent auch die Gefahr in sich birgt, rhetorisch durch und leer zu drehen. Speziell im Spätwerk mündet die Sprachbesessenheit mitunter in rhetorische „Genauigkeitsorgien“, in denen alles Erzählen förmlich ertrinkt. Gerade die paraphrasierende, persiflierende, ja auch plagiierende Wortmaschinerie erfüllt aber eine grundlegende Intention im Burgerschen Schreiben: „die Auslöschung des Ichs mittels Sprache“, wie Beatrice von Matt in ihrem Nachwort festhält (Band 2).

Der Grat ist schmal, auf dem sich Hermann Burger literarisch hielt, bis ihm der Lebensmut ausging. In den seither vergangenen 25 Jahren sind seine Bücher langsam aus dem Handel verschwunden. Umso erfreulicher ist es, dass eine große Ausgabe das Werk dieses grandiosen Ex- und Egozentrikers dem „Nebelbereich der Verschollenheit“ enthebt und in seiner Gesamtheit neu aufleben lässt.

„Schilten“, „Die künstliche Mutter“ und „Brenner“ sind wieder greifbar. Vor allem aber lassen sich endlich auch die frühen Gedichte (Band 1) und Erzählungen (Band 2) wieder nachlesen, beispielsweise „Die Leser auf der Stör“ und „Der Büchernarr“ aus dem Band „Bork“ (1970); und ebenso seine Essays, Aufsätze und Rezensionen (Band 7), die ihn als genauen, kritischen Leser ausweisen. Sie öffnen eine andere Optik auf das Werk von Hermann Burger: Er war immer und vor allem auch ein besessener Leser, einer, der nach eigener Diagnose an Morbus Lexis litt, einer Schwächung der „postsynaptischen Rezeptoren“ infolge einer „ andauernden Belastung des Einbildungsvermögens“, wie er in der Erzählung „Blankenburg“ eingehend beschreibt. Anders gesagt, wie in der Erzählung „Der Büchernarr“: „Büchernarren sind nicht diejenigen, die den Narren an Büchern gefressen haben, sondern das sind Narren, die sich von den Büchern fressen lassen.“ Damit habe er selbst auch „die Angst vor dem Lesen“ zu bewältigen versucht.

Titelbild

Hermann Burger: Essays und Preis-Reden. Die allmähliche Verfertigung der Idee beim schreiben. Tractatus Logico-Suicidalis. Werke in acht Bänden. Band 8.
Herausgegeben von Simon Zumsteg und mit einem Nachwort von Ulrich Horstmann.
Nagel & Kimche Verlag, Zürich 2014.
384 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-13: 9783312006007

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Titelbild

Hermann Burger: Werke in acht Bänden.
Herausgegeben von Simon Zumsteg.
Nagel & Kimche Verlag, Zürich 2014.
3184 Seiten, 149,00 EUR.
ISBN-13: 9783312005611

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