Peter Sloterdijk provoziert Diskurspolizisten

Ausgewählte Gespräche und Interviews 1993-2012

Von Alexandra PontzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Pontzen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Autoreninterview ist eine Textsorte, die Konjunktur hat. Nichtsdestoweniger dürfte es schwerfallen, einen Autor zu nennen, der sich auf diesem Gebiet so eifrig tummelt wie der Philosoph Peter Sloterdijk. Bernhard Klein, sein Schüler und Herausgeber der vorliegenden vierunddreißig Interviews bzw. Gespräche umfassenden Auswahl, teilt mit, dass es sich lediglich um eine enge Selektion handle und die Redewendung von der Spitze des Eisbergs wirklich am Platze sei. Bringt man zusätzlich Sloterdijks zahlreiche Bücher und sonstige Publikationen in Anschlag, dann ist es angemessen, von stupender Fruchtbarkeit zu sprechen.

Die Interviews, in denen die Interviewer meist Stichwortgeber bleiben und nur gelegentlich zu Gesprächspartnern aufsteigen, begreift Sloterdijk als Essays. Dem entspricht, dass Themen keineswegs erschöpfend abgehandelt werden, sondern locker umkreist. Fast jede Gelegenheit, von der jeweiligen Kernfrage, falls es eine solche überhaupt gibt, abzulenken, wird dankbar wahrgenommen. Nahezu ängstlich vermeidet Sloterdijk alles, was nur den leichtesten Anstrich von Pedanterie haben und an einen philosophischen Traktat erinnern könnte. Das wird dadurch begünstigt, dass er Fachgrenzen überschreitet und sein Philosophieren anreichert mit Soziologie, Psychologie, Politologie, Theologie, Ökonomie, Kultur- und Wirtschaftsgeschichte und – worauf er besonderen Wert legt – Anthropologie. Seine Methode ist die fächerübergreifende Synthese, nicht die punktgenaue Analyse.

Die vielfältigen Themen zeugen von Sloterdijks imponierender Belesenheit ebenso wie von der scheuklappenlosen Aufmerksamkeit, mit der er das Zeitgeschehen verfolgt. Mit freundlicher Ironie gibt der Herausgeber einen aleatorisch zusammengestellten „Überblick“ von Stichworten: „Weltwirtschaftskrise, Banlieue, Tour de France, Fußballweltmeisterschaft, Daniel Goldhagen, Sphären, Blasen, Globen [drei metaphorische Begriffe Sloterdijkscher Philosophie, AP], Weltfremdheit, Zynismus, Kristallpalast, Treibhaus, Zorn, Globalisierung, Kapital, Fernsehen, Interview, Askese, Design, Halbmondmenschen, Automenschen, Beethoven, Kohl, deutsche Nachkriegszeit, Architektur.“

Solcher Disparatheit ist keine Rezension gewachsen. Vielleicht ist am ehesten ein Eindruck zu vermitteln, geht man nicht aus von den einzelnen Themen und dem, was über sie gesagt wird, sondern von der Rolle, die Sloterdijk sich selbst zudiktiert. Er will kein Fachphilosoph sein, der keinen Ausweg mehr aus seiner akademischen Klausur findet, sondern ein weltoffener Denker mit großem Publikum. Die Universität sei nicht sein „Maulwurfshügel“, eine Bemerkung, deren polemischer Ton unüberhörbar ist und die, wenn nicht im Wortlaut, so doch gedanklich, stets präsent ist. Auf den Polemiker Sloterdijk weist auch eine in ihrer Logik etwas hapernde Selbstcharakterisierung: „Ich bin überhaupt kein polemischer Autor. Meine Polemik ist eine indirekte.“ Das ist eine Aufforderung, zwischen den Zeilen zu lesen, um halbwegs zu bestimmen, wo Sloterdijk sich positioniert.

Geistesgeschichtlich aufschlussreicher als seine Kritik an der etablierten Universitätsphilosophie ist seine Abrechnung mit einer epochalen philosophischen Richtung, der er selbst einst angehangen hat und die er jetzt als Renegat befehdet: der Kritischen Theorie. Er erklärt sie für tot, „weil sie ihre Aufgabe, als Ziviltheologie der Bundesrepublik zu fungieren, nicht mehr überzeugend wahrnehmen“ könne, versuche sie es trotzdem, werde sie „als Sekte auffällig“. Die polemische Spitze liegt weniger in der Todeserklärung, die heute kaum überrascht, als vielmehr in den Vokabeln „Ziviltheologie“ und „Sekte“, mit denen die Kritische Theorie in die Nähe eines dubiosen Religionssurrogats gerückt wird. Selbst wenn Sloterdijk die Bedeutung der Kritischen Theorie für die einstige Bundesrepublik überschätzen sollte, so hat sie zweifellos deren intellektuelles Klima eine Zeit lang stark geprägt und somit auch das, was als politisch korrekt galt und größtenteils immer noch gilt. Die „Diskurspolizisten“ linker Provenienz fühlen sich nicht zu Unrecht von Sloterdijk herausgefordert, der als Provokateur der politischen Korrektheit ungemein erfolgreich ist.

Das wird offenkundig, wenn er in „Regeln für den Menschenpark“ den Gedanken an gentechnische Züchtung des Menschen nicht mit obligatorischem Abscheu bedenkt – ohne allerdings im Positiven genau zu werden – und bei Habermas und mehr noch in dessen Umgebung auf empörte Ablehnung stößt: Die Kluft zwischen einer Anthropotechnik, deren Anrüchigkeit selbstverständlich zu sein scheint, und einem Humanismus, der nicht weniger selbstverständlich Hochachtung genießt, ist unüberbrückbar, und der von Sloterdijk vorgeschlagene zweite hippokratischer Eid zur Nachbesserung ärztlicher Ethik dürfte so schnell nicht geschworen werden. Mit ihm hätten Ärzte zu geloben: „nicht nur die Gesundheit als solche, sondern auch die Bedingungen der Möglichkeit von Gesundheit zu begünstigen. Wer dawider handelt, etwa durch Vernachlässigung von Forschung, macht sich der unterlassenen Hilfeleistung schuldig.“

Von geringerer Tragweite, aber nichtsdestoweniger charakteristisch für Sloterdijks Art, Denkgewohnheiten provokativ infrage zu stellen, ist sein Ideenprojekt, „die gesamte Sphäre der öffentlichen Finanzen in eine Ehrenangelegenheit umzuwandeln“, die Steuer als freiwillige Gabe zu begreifen. Bereits die Fragen der Interviewer machen deutlich, wie utopisch ein solcher Vorschlag wirkt, der, obwohl er der Idee nach jeden Steuerzahler zum Sponsoren erklärt, letztlich die Reichen adelt und zu vornehmeren Leuten macht als den Rest der Bevölkerung.

Auf gleicher antilinker Linie liegt die Anregung zu einer „Unternehmerbewegung“, in symbolischer Anlehnung an die Arbeiterbewegung. Obwohl Sloterdijk den Unternehmerbegriff natürlich nur metaphorisch benutzt – jeder eigenverantwortliche Mensch ist sozusagen Unternehmer –, hat diese Metaphorik einen neoliberalen Akzent, und Sloterdijks Ethik, in der für Sekuritätsbedürfnis wenig Platz ist, kann man dem Neoliberalismus zuordnen, wobei natürlich von der pejorativen Konnotation, den dieser Begriff in den letzten Jahren bekommen hat, abzusehen ist.

Sloterdijks positives Menschenbild und sein dezidierter Optimismus lassen sich interpretieren als Gegenposition zur „schwarzen Anthropologie von Thomas Hobbes bis Adorno“ und zum „virtuosen Klagen“ der Frankfurter Schule und ihrem „Klagekonsens“. Einseitiger Negativismus sei auf Dauer nicht lebbar, und deshalb ist Sloterdijk, der seine Nietzsche- Jüngerschaft nirgendwo verleugnet, zur Heiterkeit entschlossen – der seltene Fall eines Intellektuellen, der von sich sagt, dass das Leben seinen ursprünglichen Pessimismus widerlegt habe.

Eine Quelle der Heiterkeit, ja des Glücks ist für Sloterdijk das philosophische Gespräch. Dabei hebt er die im vorliegenden Band abgedruckten langen Gespräche mit Ulrich Raulff über das Schicksal-Motiv besonders hervor: „Momente puren intellektuellen Glücks“, in denen man begreife, was Literatur sein könne, nämlich eine „syntaktische Glückstechnik. Mit der nicht-alltäglichen Zusammenfügung von zwei, drei Wörtern beginnt die Levitation.“ Hier spricht kein Philosoph, sondern ein Sprachkünstler, als der sich Sloterdijk in vielen Passagen erweist. Dem Philosophen Sloterdijk, der seinem Widersacher Manfred Frank zufolge die „Feinmechanik der expliziten philosophischen Argumentation“ nicht beherrscht, mag man mit Skepsis begegnen, der Formulierungsvirtuose Sloterdijk jedoch verdient Anerkennung selbst dann, wenn man die formulierten Gedanken nicht ohneweiteres nachvollziehen kann. Das ästhetische Vergnügen verhindert, dass der Leser sich langweilt. Seit jeher leide er, schreibt Sloterdijk, unter einer kindlichen Furcht vor Langeweile, und am meisten langweilten ihn die „Phrasenbesitzer“. Dass er seinen Lesern die Langweile ersparen will, erklärt seinen pointierten Stil, seine überraschenden Assoziationen und seine Freude an provokativen Übertreibungen. Die Leser sollten dankbar sein.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Peter Sloterdijk: Ausgewählte Übertreibungen. Gespräche und Interviews 1993-2012.
Herausgegeben von Bernhard Klein.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013.
476 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783518422007

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