Würde als offener Begriff

Peter Bieri umkreist „Eine Art zu leben“

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

 „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, heißt es im Grundgesetz. Nach den Erfahrungen der nationalsozialistischen Diktatur wollten die Väter der neuen Verfassung das eindeutig festhalten. Genau so wie die Amerikaner, als sie ihre „für selbstverständlich“ gehaltenen Menschenrechte aufschrieben. Aber was ist Würde?

Für den Philosophen Peter Bieri ist die Würde „eine bestimmte Art und Weise, ein menschliches Leben zu leben. Sie ist ein Muster des Denkens, Erlebens und Tuns. Diese Würde zu verstehen, heißt, sich dieses Muster begrifflich zu vergegenwärtigen und es gedanklich nachzuzeichnen. […] Was man braucht, ist der wache und genaue Blick auf die vielfältigen Erfahrungen, die wir mit dem Begriff der Würde einzufangen suchen.“ Also keine Metaphysik, kein Gott, von dem wir unsere Würde empfangen haben, aber auch keine Theorie über eine Eigenschaft des Menschen und auch kein unveräußerliches Anrecht.

In acht großen Kapiteln umkreist Bieri die „Lebensform der Würde“: Wie werde ich von anderen Menschen behandelt? Was machen sie, was meine Würde bedroht oder zerstört? „Was alles kann man jemandem auf keinen Fall wegnehmen, wenn man seine Würde schützen will?“ Wie behandle ich andere Menschen, wie gehe ich mit ihnen um, welche Einstellung habe ich zu ihnen? „Jetzt ist die Würde etwas, über das nicht andere bestimmen, sondern ich selbst.“ Und schließlich: Wie stehe ich zu mir selbst? „Welche Art, mich selbst zu sehen, zu bewerten und zu behandeln, gibt mir die Erfahrung der Würde?“

Von diesen drei Dimensionen ausgehend betrachtet er die Würde in verschiedenen Kategorien: Würde als Selbständigkeit und als Begegnung, als Achtung vor Intimität und als Wahrhaftigkeit, als Selbstachtung und als moralische Integrität, als Sinn für das Wichtige und als Anerkennung der Endlichkeit. Mit diesem pragmatischen Ansatz gelingt es ihm, diesen so schwammigen Begriff tatsächlich einzukreisen, ein wenig zu fassen, aber gleichzeitig auch nicht totzudefinieren, wie es die Schulphilosophie schon getan hat. Er behandelt ihn als offenen Begriff, der dennoch in allen politischen, psychologischen, ökonomischen und soziologischen Feldern eine Rolle spielen kann, wenn man ihn ernst nimmt. Er versucht dabei, die Dimensionen der Menschenwürde im Leben selbst auszuloten: Selbstachtung, Fremdenhass, Opportunismus, Arbeitslosigkeit, Krankheit, Alter, überall kann die Würde eine Möglichkeit sein, unsere Beziehungen zu uns und der Welt neu zu betrachten.

Bieri benutzt meistens Beispiele aus der Literatur, Henrik Ibsens „Puppenheim“, Friedrich Dürrenmatts „Das Versprechen“, Franz Kafkas „Der Prozess“, Robert Walser, Vladimir Nabokov, Max Frisch, Christa Wolff. Hier wie auch im nicht-literarischen Leben kann die menschliche Würde sehr verschieden aussehen. Und so wird Bieris Buch auch zu einem Handbuch für ein „gutes Leben“, nämlich eines, das die individuelle Menschenwürde anstrebt, so sehr sie sich auch von anderen unterscheiden mag. Seine Überlegungen zu Freitod und Sterbehilfe gehören denn auch zu den tiefschürfendsten und bewegendsten Gedanken dieses Buchs, gerade weil sie nicht von einer Idee ausgehen, wie es zu sein hat. Sondern einfühlsam diese Gedanken in verschiedene Richtungen entfaltet.

Noch dazu ist das Buch lesbar, was man nicht von jedem Philosophiebuch behaupten kann. Vielleicht liegt es daran, dass er nicht mit Fachbegriffen um sich wirft, mit denen anderen Philosophen wie Theodor W. Adorno, Martin Heidegger oder Peter Sloterdijk doch eigentlich nur zeigen, wie gebildet sie sind und wie toll und kompliziert ihre Gedanken sind. Bieri hat das nicht nötig: Er schreibt verständlich. Und leitet damit, anders als andere, zum eigenen Nachdenken an.

Titelbild

Peter Bieri: Eine Art zu leben. Über die Vielfalt menschlicher Würde.
Carl Hanser Verlag, München 2013.
382 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783446243491

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