Kleine „Revolte gegen das Allgemeine“

Einzelheiten von Klaus Pankow zur Geschichte der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur

Von Barbara MariacherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Barbara Mariacher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Die Einzelheit“ ist ein schmales, aber dennoch sehr dichtes Buch, das sich – wie es im Klappentext heißt – mit einer Auswahl von „Gesprächen, Porträts, Glossen, Buchbesprechungen und Nachworten“ der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur widmet. Es strebt keinen Überblick und keine Vollständigkeit an, sondern hat sich – wie der Titel deutlich macht – ganz bewusst den Einzelheiten verschrieben. Denn die „Einzelheit“, so das Mottozitat des Schweizer Schriftstellers Adolf Muschg, ist nicht nur „die Revolte gegen das Allgemeine“, sondern „das zugleich erbärmlich Schutzbedürftige unter uns.“

Historischer Ausgangspunkt der gesichteten und kommentierten Texte ist das Jahr 1989, genauer gesagt der Sommer eben jenes Jahres, in dem der Verfasser seine letzte Dienstreise in den Westen – und zwar nach Wien – unternimmt, um wenig später, nach seiner Rückkehr, die Auflösung der DDR-Diktatur zu erleben. Das Jahr 1989 ist nicht nur ein politischer, sondern auch ein literaturgeschichtlicher Ausgangs- und Wendepunkt, von dem aus einzelne literarische Phänomene und Autoren ins Blickfeld des Literaturwissenschaftlers und Kritikers geraten. Klaus Pankow war von 1985 bis 1992 Verlagslektor für die deutschsprachigen Literaturen im Leipziger Reclamverlag und übernahm später die Leitung der Stadtbibliothek in Halle an der Saale.

Verortet werden in dem kleinen Büchlein nicht nur die literarischen Beziehungen zwischen Ost- und Westdeutschland, sondern auch jene zur österreichischen und zur Schweizer Literatur, wobei Adolf Muschg, Peter Handke und Ernst Jandl einen besonderen Stellenwert innehaben. Die Faszination, die sich besonders um die Texte des Wiener Lyrikers Ernst Jandl rankt, dessen Werk in der ehemaligen DDR „nur in wenigen und unzulänglichen Ausgaben greifbar war“, erklärt Klaus Pankow mit dem in Jandls experimenteller Lyrik zu Tage tretenden „Prinzip der selbstverständlichen Entfernung von den Diskursen der Mächtigen.“

Das Buch gliedert sich in fünf Abschnitte, in denen auf unterschiedlichste Weise literarische Texte und deren gesellschaftliche Funktion verhandelt werden. Den Auftakt bildet ein Gespräch aus dem Jahre 1989 mit dem in Hamburg geborenen Wissenschaftler, Schriftsteller und Literaturkritiker Walter Jens, einem Grandseigneur der bundesdeutschen Literaturgeschichte. Gesprächsthemen sind unter anderem seine Rolle innerhalb der Gruppe 47, die Verbindungen von Politik und Literatur sowie Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Ost und West, die Walter Jens so auf den Punkt bringt: „Wir haben die gleiche Geschichte […]. Und wir haben vor allen Dingen auch die gleiche Schuld. [….] Das heißt, wir […] haben in unserem Rücken die unheimliche Nähe von Weimar und Buchenwald, vom Frauenplan und dem etwa hundert Steinwürfe entfernten Konzentrationslager. Dieser Nähe haben wir uns zu stellen, dies bleibt unsere Aufgabe.“ Das anschließende Interview mit Winfried Völlger, einem in der DDR viel gelesenen, dem Staat kritisch gegenüberstehenden Autor, stellt jedoch diese von Jens angesprochene Nähe sogleich in Frage. Denn das Gespräch wirft ein beklemmendes Licht auf die Situation der DDR-Literaten nach 1989, auf die man im neuen Deutschland nach der Wende offensichtlich „auf eine schamlose Weise nicht mehr […] angewiesen“ war und die sich zu völliger Bedeutungslosigkeit verurteilt fühlten. Auf dieses Gefühl reagierte der Schriftsteller Völlger während seiner Zeit als Stadtschreiber in Halle an der Saale, indem er „an einem Dutzend eigener Bücher [zeigt], wie man aus unverkäuflicher Literatur hübsche Gegenstände verfertigen kann“, womit er nach Klaus Pankow sein Trauma, nicht mehr gelesen zu werden, auf beinahe heitere Weise verarbeitete.

Der zweite, nur drei kurze Texte umfassende Abschnitt endet unter dem ironischen Titel „Baden gehen“ mit einem Protokoll des ersten gesamtdeutschen Schriftstellerkongresses, der vom 24. bis 26. Mai 1991 in Lübeck-Travemünde abgehalten wurde und aus östlicher Sicht so verlief: „Kein Streit, keine Analysen, aber zweieinhalb Tage Reden und Reden. Westdeutsche Lokalmatadore und Sitzriesen beherrschten die traurige Szenerie.“ Klaus Pankow bemängelt nicht nur fehlende Analysen, die etwa „die deutsch-deutsche Nichtvereinigung im Feld der Literatur einer detaillierten und ehrlichen Prüfung“ unterzogen hätten, sondern auch das Fehlen prominenter Schriftsteller. Dies versinnbildliche die gleichzeitige An- und Abwesenheit von Rainer Kirsch, der sich, während der Kongress im übertragenen Sinne baden ging, offensichtlich in der Sauna aufhielt.

Der dritte Abschnitt enthält Rezensionen von literarischen Neuerscheinungen im Zeitraum von 1992 bis 2009 und vermittelt gerade durch die analysierten Einzelheiten ein anregendes Bild von der Gegenwartsliteratur im Osten. Besprochen werden Gedichte und Prosawerke von Christoph Kuhn, Franz Fühmanns sogenanntem „Bergwerkprojekt“, ferner das Werk des Dichters Lothar Walsdorf, das der Wiederentdeckung harre, sowie zwei Bücher von Kerstin Hensel. Der bunte Reigen setzt sich in den folgenden beiden Abschnitten fort, wobei neben „literarischem Kleingewerbe“ auch Autoren wie Martin Walser, Peter Rühmkorff, Karin Kiwus, Ernst Jandl und Adolf Muschg besprochen werden.

Die kleine Textsammlung spiegelt nicht nur die Themen und die gesellschaftliche Situation der Autoren in Ost und West vor und nach der Wende wider, sondern gibt auch interessante Einblicke in die Rezeptionsgeschichte einzelner Autoren. Besonders aber regt sie zu einer differenzierten Auseinandersetzung und zur Wiederentdeckung von vielen in Vergessenheit geratenen ostdeutschen Autoren an.

Titelbild

Klaus Pankow: Die Einzelheit. Gespräche, Porträts und Kritiken zur Gegenwartsliteratur.
Verlag Roland Heinrich, Halle an der Saale 2012.
109 Seiten, 9,80 EUR.
ISBN-13: 9783942249003

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch