Ganz schön nützlich

Der Biologiehistoriker Thomas Junker schreibt eine Evolutionsgeschichte des Künstlertums

Von Bernd BlaschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Blaschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit.“ Was Karl Valentin einst in seiner zauberhaften Schein-Naivität bemerkte, impliziert einige Fragen: Zu welchem Zweck machen sich die Künstler die viele Arbeit? Oder: Warum und wofür investieren die Kunstkonsumenten oder Kontemplateure ihre knappe Zeit und ihre empfindlichen Nerven für offenbar nicht unmittelbar lebenswichtige Praktiken? Wozu Kunst?

Nicht wenige Kunsttheoretiker respektive Literatur- und Kunstwissenschaftler tabuisierten im Namen einer noblen Zweckfreiheit und Autonomie der Kunst die Frage nach Zwecken des Kunstmachens oder Kunstbetrachtens. Oder sie versteiften sich auf abstrakte und keusche Motivationen wie das ‚interesselose Wohlgefallen‛. Statt nach dem Zweck und dem Ursprung der Künste zu fragen, ging man lieber detailliert den überaus vielfältigen Formen der Kunst nach. Motivforschung in Kunst- und Literaturwissenschaft ging selten auf die Antriebe und Zielsetzungen der Kunstkommunikation; sie beschrieb vielmehr den Formenwandel bestimmter Themen und Gegenstände. Doch gibt es in jüngerer Zeit zunehmend ausgefeilte Versuche, die Künste und ihre Macher im Rahmen der Evolutionsbiologie zu verorten und ihre Entstehung und Funktion(en) darwinistisch zu erklären. Winfried Menninghaus’ Buch „Wozu Kunst? Ästhetik nach Darwin“ zeigte 2011, wie gut und inwieweit sich die von Charles Darwin und von Evolutionsbiologen nach ihm entwickelten Überlegungen zur Funktion und Evolution ästhetischer Bemühungen mit Fragen und Modellen des traditionellen Kunsttheorie-Kanons, vor allem mit Immanuel Kants Anthropologie, verbinden lassen.

Mit dem Tübinger Biologiehistoriker Thomas Junker hat nun ein gelehrter Naturwissenschaftler ein einführendes Buch vorgelegt, das wie Menninghaus’ jüngere Arbeiten die menschlichen Kunstpraktiken als funktionale, motivierte und (weitgehend, aber nicht ausschließlich) lebensförderliche Handlungen begreift. Gegenüber eindimensionalen Funktionszuschreibungen beharren beide Autoren darauf, dass Kunstpraktiken durchaus gegenläufigen Zwecken dienen können. Menninghaus’ erstes Kapitel widmete sich Darwins Konkurrenzmodell der Künste. Es erklärt vor allem jene Schmuck- und Singpraktiken, welche Rivalen im Kampf um die Gunst von Fortpflanzungspartnerinnen anwenden, um sich möglichst erfolgreich fortzufplanzen. Komplementär dazu profilierte Menninghaus ein zweites Modell der Künste als Übungsfelder des sozialen Zusammenhalts, etwa wenn gemeinsam gesungen oder getanzt wird und dadurch das Verhalten von Individuen sowie deren Gefühle und Ziele synchronisiert werden. Auch Thomas Junker erläutert sowohl den Rivalitätsaspekt der Schmuckkonkurrenz zwischen Gruppenmitgliedern als auch jenen Integrationsaspekt, dass gerade mittels kollektiver Kunstübungen ein neuer (sozialer) ‚Superorganismus‛ hergestellt werden könne, der dann im gemeinsamen Kampf ums Überleben – gegen andere Gruppen oder Tiere – über Fitness- und Selektionsvorteile verfüge. Junker neigt zu einem evolutionären Stufenmodell, das beide Arten des Kunstnutzens integriert: Künste entstanden aus sexuellen Signalen (auf dem Markt der Partnerwahl) und gewannen dann im Laufe ihrer Entwicklung zusätzliche biologische und soziale Nützlichkeiten hinzu.

Der Naturwissenschaftler diagnostiziert eine Verleugnung der auch in der Menschheit wirkenden Naturgesetze – gleichsam eine Allergie gegen Biologisches –, die seit der Ausdifferenzierung von Natur- und Geisteswissenschaften im 19. Jahrhundert dazu geführt habe, dass kulturelle Praktiken und künstlerische Artefakte ohne Rückbezug auf biologische Grundlagen verstanden werden sollten. Ziel der evolutionären Kunsttheorie sei nicht die Beseitigung oder Ersetzung der Kunstgeschichte und ästhetischen Fachdisziplinen, sondern deren Bereicherung durch ein naturwissenschaftliches Fundament. Durch Darwins Evolutionstheorie, die biologische Zweckmäßigkeit mit geschichtlichem Werden verbindet, sei der Weg zur kausalen Erklärung der Künste aus natürlichen Grundlagen frei geworden.

Junker referiert, wie das Wesen der Kunst (also die Antwort auf die Frage „Was ist Kunst?“) gerade im 20. Jahrhundert umstritten und schwer auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen war. Scheinbar mühelos zu Kunst erklärte Objekte wie Duchamps Ready-Mades sprengten klassische Kunstbegriffe ebenso wie der Abschied von Schönheit, Harmonie und Symmetrie als Leitkriterien für gute Kunst. Junker plädiert nun einerseits für einen sehr weiten Kunstbegriff, der den großen Unterschieden im Kunstverständnis verschiedener Kulturen und Epochen Rechnung trägt. Ein solch weiter Kunstbegriff müsse „Aktivitäten einbeziehen, die bei einer anderen Lebensweise und Umwelt ähnliche Funktionen erfüllen: Schmuck, Körperbemalungen und Tätowierungen, Lieder und Geschichten, die kommerzielle Produktwerbung, Kino und Fernsehen, Zirkus und Varieté, Sportarten wie der Eiskunstlauf und vieles mehr.“ Andererseits beharrt er, im Gegensatz zu bloß soziologischen Kunstdefinitionen (etwa: Kunst ist, was im Kunstbetrieb oder Museum als solche behandelt wird), auf innere Qualitätskriterien für Kunstobjekte. Erläutert wird dies mit Hinweis auf die hohen Produktionskosten von Kunstwerken, welche eben nicht einfach von jedem hergestellt oder zu Kunst erklärt werden könnten, ferner durch ihre Funktion als Distinktionsmerkmal bei der Gruppenbildung, die analog zur biologischen Artenbildung durch sexuelle Signale funktioniere. Eine engere Kernbestimmung der Künste kennzeichnet Junkers Erklärungsmodell mit der Behauptung, dass eine besonders wichtige Funktion der Kunst letztlich ihr Wesen determiniere: Kunst wird begriffen als eine Sprache des Menschen, als sein wirksamstes Kommunikationsmittel für unbewusste Gefühle und Wünsche.

Das erste von Junkers fünf Kapiteln zeigt, dass Bestimmungen des Nutzens von Kunst im Zentrum der evolutionären Kunsttheorie stehen. Wie vielfältig und umwegig diese Nutzenfunktionen der Kunstaktivitäten sein können, wird klar, wenn aufgezählt wird, was alles als Wert und Zweck der Kunstausübung gepriesen wird. Kunst diene als Erfahrungsspeicher einer Gruppe durch eigene Objekte oder Erzählungen, zudem als spielerisches Training des Körpers, der Emotionen und des Geistes im Hinblick auf Kreativität, Geschicklichkeit und Beweglichkeit von Denken und Körper. Möglich sei auch ein – ziemlich ambivalenter – Nutzen der Kunstrezeption als „Rausch – und Entspannungsdroge“. Kunst dieser Art wirke als ein Mittel, das seine Rezipienten nach anfänglichem Vergnügen schlicht süchtig macht, auch wenn dieser Konsum ihren vitalen Interessen schaden mag. Indirektere Nutzenzuschreibungen verweisen schließlich auf die Möglichkeit, dass eventuell gar nicht die Kunstproduzenten oder Rezipienten einen Hauptnutzen haben, sondern ‚fremde‛ Interessen – etwa die von Kunsthändlern oder -sammlern – den Bereich der Kunst bestimmen. Umwegig argumentieren auch jene evolutionären Theoreme, die Kunst als „unbeabsichtigtes Nebenprodukt“ genuin nützlicher Fähigkeiten erklären. Gutes Gehör, geschickte Hände, scharfe Augen und Intelligenz seien sehr wertvoll für gewisse (kunstferne) Zwecke; ihre lustbesetzte Nutzung für an sich zweckfreie, nicht-adaptive Kunst sei hingegen eine spielerische Nebenbeschäftigung dieser Fähigkeiten. Steven Pinker erklärte demnach die Kunst analog zur Pornographie zu einer reinen – eigentlich dysfunktionalen – Lusttechnologie. Diese biete, ähnlich den Drogen, unserem Lust- und Belohnungssystem wirkungsvolle aber ‚falsche‛ Signale an, die den Lebensprozessen letztlich schadeten.

Im zweiten Kapitel zerlegt der Autor die Kunstwerke analytisch in diverse Elemente, und versucht, jedem einzelnen davon biologischen Nutzen zuzuschreiben. Gezeigt wird, wie die Formen der Künste, ihre Inhalte (vorrangig: Emotionen), ihre Mechanismen und Wirkungen (vor allem: Gemeinschaftsstiftung und Abgrenzung) jeweils (über)lebensförderlich seien. Bei den Formen ist es die Schönheit, die im Vordergrund steht. Alles was ein Mensch produziere, lasse sich auf seinen Produzenten rückbeziehen. Jedes Individuum könne (oder müsse?) daher diese Erweiterungen seines Ichs möglichst aufwendig und schön gestalten. Dass in der Moderne Schönheit (als Symmetrie oder Proportion) zunehmend zugunsten von Originalität oder Ausdruckskraft als künstlerischer Leitwert verdrängt werde, erklärt Junker damit, dass Schönheit nur solange ein Bio-Qualitätsmerkmal war, wie sie schwierig herzustellen war und deswegen als Nachweis von Kraft und Talent gelten durfte.

Die sogenannte ‚Theorie der Handicaps und der teuren Signale‛ soll erklären, warum sich Menschen für verschwenderische, eigentlich dysfunktionale Praktiken (etwa für gefährliche Mutproben oder für sperrige Kunstwerke) begeistern. Gerade weil sie verschwenderisch kostspielig sind, sollen sie als schwer fälschbare Signale oder Beweise für große verfügbare Ressourcen wirken.

„In der Kunst spielen Gefühle eine so zentrale Rolle, dass sie sich als die Sprache der Gefühle definieren lässt.“ Und Emotionen wirken biologisch als die wichtigsten Steuerungsinstanzen des Menschen. Weswegen keine Gemeinschaft auf deren Modulation verzichte. Unter den Künsten seien es speziell die Musik und die Oper, die als Gefühlskunst in höchstem Maße wirkten. Wobei die „simultane Darstellung sich ausschließender Affekte“ durch die diversen Wirkmittel der Oper „den Widerstreit der Gefühle und Wünsche im Individuum und in einer Gemeinschaft“ abbilde und dadurch verstehbar mache. Sozial nützlich sei diese Emotionskunst als Schulung der Gefühle, weil sie in Richtung angemessener Gefühlsreaktionen erziehe. Die Darstellung unbewusster Emotionen helfe Gemeinschaften, auch gegensätzliche Interessen zu klären und gemeinsame Ziele zu vermitteln. Denn die ästhetische, indirekte und handlungsentlastete Darstellung der Konfliktthemen erlaube es, Interessenkonflikte gezähmt auszutragen.

Künste werden hier begriffen als „eine spezielle Sprache, in der sich die Menschen indirekt über ihre Lebensziele austauschen.“ Diese Lebensziele denkt sich der Biologe als weder anerzogen noch beruhend auf individueller Erfahrung. Immer noch seien sie in erster Linie Ausdruck der Natur des Menschen. Die kulturelle Umwelt liefere nur den Rahmen, in dem diese Ziele angestrebt werden. Allerdings transzendieren Kunstwerke doch auch das Gegebene. Sie eröffnen als „ästhetisch bearbeitete, gemeinschaftliche Phantasien“ einen Spiel- und Denkraum jenseits der bloßen Wirklichkeit, etwa im Hinblick auf (neue) Ziele einer Gemeinschaft. Kunst verkörpere und zeige menschliches Können. Deswegen seien nur menschlich hergestellte Artefakte Kunst. Die Gemeinschaft schätze solch herausragendes Können, weil kreative Einfälle und handwerkliche Fähigkeiten für ihr Überleben generell nützlich seien.

Gerade die scheinbar verschwenderisch aufwendige (und mithin dysfunktionale) Formgebung der Kunst sichere ihr Aufmerksamkeit und garantiere die Ernsthaftigkeit der kommunikativen Anliegen. Darüber hinaus erlaube ästhetische Formung dauerhafte Wissensspeicherung, emotionales und strategisches Training. Herstellung oder Besitz von Kunst kann – prinzipiell gegensätzlich – verbucht werden als narzisstische Aufwertung Einzelner oder als Beitrag zur Gemeinschaftsbildung. Bei all diesen nützlichen Beiträgen zum (Über-)Leben der Menschheit überrascht es nicht, wenn Junker erklärt, dass das Ende der Kunst wohl das Ende der Menschheit bedeute. Denn Kunst war in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit die „Geheimwaffe“ zur Bewältigung der intrikaten Aufgabe, divergierende Lebensziele zu koordinieren, so die Antwort des Biologen auf die Frage des 3. Kapitels: „Welches Problem soll die Kunst lösen?“

Aufschlussreich sind auch die Vermutungen zur langen (Vor-)Geschichte der Künste. Vor circa 2 Millionen Jahren änderten sich die Spielregeln der Fortpflanzungskonkurrenz bei unseren menschlichen Vorfahren. Von direkter Kraft-Konkurrenz unter Männchen (die zu Größenunterschieden von 50-100% zwischen den Geschlechtern führte) wurde umgestellt auf Partnerwahl durch die Frauen.Dies führte zur Entstehung ästhetischer Körperschmuck-Praktiken bei den sich bewerbenden Männchen; die nackte Haut der Frühmenschen biete für Körperschmuck seit 2 Millionen Jahren die geeignete Bühne. Weitere Vorstufen zur Kunst findet Junker in der Werkzeug-Gestaltung seit 2.500.000 Jahren, sowie in Klatsch und Tratsch, die in Floskeln geformt als Mittel zur Erzielung von Einverständnis und Gemeinschaft seit 500.000 Jahren wirken. Ferner in der gemeinsam geplanten und trainierten Jagd seit 400.000 Jahren. Allerdings sind die ältesten Kunstfunde nur ca. 50.000 Jahre alt. Die Lücke zwischen archäologischen Belegen und Vermutungen wird geschlossen durch die Hypothesen fehlender Funde, zerstörter Objekte und den Hinweis, dass Tanz und Gesang kaum je dauerhafte Spuren hinterlassen konnten.

Abschließend fragt der Evolutionsbiologe nach den Zukunftsaussichten der Künste. In einer Zeit der Massenproduktion seien nunmehr auch Werke der Künste nicht mehr knapp und teuer, sondern im Überfluss vorhanden. Diese Inflation entwerte diese Wertgegenstände. Als Reaktion darauf können die minimalistischen Kunstmodelle der Moderne verstanden werden – die aber nur von kleinen Kreisen akzeptiert wurden und für die aufwendig argumentiert werden musste. Wie bei der Nahrung sieht Junker einen Wandel beim Status der Künste. In der Gegenwart herrsche an beidem ein Überfluss, doch bestehe weiterhin ein Mangel an echten und qualitätsvollen Nahrungsmitteln und Kunstwerken. Also herrsche weiterhin eine gewisse Knappheit und die Suchanreize wirkten fort.

Insgesamt prophezeit Junker eher einen Wandel der Künste und ihrer Formen sowie Funktionen als deren Verschwinden. Dabei könnten einzelne Künste durchaus aussterben, wenn sie ihren Zweck verlieren, was er beispielsweise im Hinblick auf die sozialen Funktionen des Tanzes in zu großen Gruppen erwägt. Junkers ganz auf Nützlichkeiten und Wirkungsweisen der Künste abgestellte Kunsttheorie gelangt zum Fazit, dass die Künste – wie jedes machtvolle Werkzeug – letztlich ambivalent nutzbar und daher umstritten seien. Sie können betäuben oder das Bewusstsein erweitern, Gemeinschaften stiften und zusammenhalten – aber auch Individuen in die Isolation führen. All diese Wirkungsweisen basierten letztlich auf den natürlichen Anlagen und Interessen des Menschen, so dass der Biologe seine Naturalisierung der Kunst konsequent schließt: „Die Künste sind mehr als ein unersetzliches Weltkulturerbe – sie sind ein lebendiges Weltnaturerbe, das es zu bewahren gilt.“

Junkers Buch ist gut lesbar formuliert und bietet mit seiner klaren Gliederung und seinen Zusammenfassungen der Hauptthesen in grau unterlegten Kästen eine didaktische Einführung in die Grundgedanken der biologisch fundierten evolutionären Ästhetik. Im Vergleich mit Winfried Menninghaus’ Pioniertat „Wozu Kunst?“ bietet es nicht wirklich Neues, wohl aber im 4. Kapitel einen chronologischen Abriss über die Entstehungsstadien von (Vor-)Formen der Kunst und durchweg eine noch stärker auf Biologie und Nutzenfunktionen fixierte Argumentation. Spannend und herausfordernd bleibt eine von den Höhen der Entstehungs- und Funktionsspekulationen zu den Niederungen konkreter Werkinterpretationen und Kunstbetriebsanalysen herabsteigende Integration biologischer Kunsttheorie und empirischer wie hermeneutischer Kunstanalysen. Da gibt es noch viel zu erklären über Lust und Zweck – jenseits des interesselosen Wohlgefallens.

Titelbild

Thomas Junker: Die Evolution der Phantasie. Wie der Mensch zum Künstler wurde.
Hirzel Verlag, Stuttgart 2013.
235 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783777621807

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