„Ce qui dort dans les cartons“

Stéphanie Cudré-Mauroux und Irmgard M. Wirtz geben eine „Poetik literarischer Archive“ heraus

Von Yulia MevissenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Yulia Mevissen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

War es zu Schillers Zeiten noch üblich, Manuskripte nach Drucklegung als nunmehr überflüssig zu vernichten oder als Memorabilien zu verschenken, ja zu diesem Zwecke Manuskripte bedenkenlos auch in Stücke zu zerschneiden, so hat sich mit Goethe – wie so manches andere – der Umgang mit den eigenen publizierten und unpublizierten Manuskripten paradigmatisch gewandelt. Die Namen Johann Wolfgang von Goethe und Wilhelm Dilthey stehen geradezu metonymisch für den gewöhnlich zweifach datierten Ursprung des literarischen Archivs/des Literaturarchivs: Goethes Aufsatz „Archiv des Dichters und Schriftstellers“, 1823 in der Zeitschrift „Über Kunst und Alterthum“ veröffentlicht, enthält die folgenreiche Bestimmung, dass in den Hinterlassenschaften des Autors „nichts vernachlässigt noch unwürdig geachtet werden sollte“. Diltheys programmatischer Gründungsappell für „Archive der Literatur“ (1889) sieht die hermeneutische Funktion des Archivs darin, den „inneren lebensvollen Zusammenhang her[zu]stellen“, letzte Aufschlüsse über den Zusammenhang von Leben und Werk zu liefern, ohne deren Verfügbarkeit es zahlreicher hermeneutischer Zirkelbewegungen bedürfe. – Trotz des zwischenzeitlichen Ausrufs des „Tods des Autors“ operieren Literaturarchive nach diesem biografischen Paradigma, wenn sich auch freilich das methodische Vorgehen seit Dilthey gewandelt hat.

Das Literaturarchiv ist längst keine rein „pragmatisch konzipierte[] Institution“, wenn es denn je eine war, sondern zum „Emblem-Ort“ (Ulrich Raulff) geworden, nicht nur Fundus für philologische Spurensuchen, sondern Hort von symbolischem Kapital und – ja, auch und trotz allem – Ort der autonomieästhetischen Auratisierung dessen, was von der „Hand des Autors“ stammt. Nicht nur erfreut sich das Archiv gegenwärtig einer ausgesprochenen Forschungskonjunktur und kulturtheoretischen Bedeutungssteigerung, sondern auch die Zahl der an die institutionalisierten Archive herangetragenen Nachlässe und – jüngst – „Vorlässe“ steigt immens.

Hier setzt der von Stéphanie Cudré-Mauroux und Irmgard M. Wirtz herausgegebene Band „Literaturarchiv – Literarisches Archiv. Zur Poetik literarischer Archive“ an. Er will „einen Beitrag zur Debatte des Archivs in seinen materiellen Voraussetzungen und seinem diskursiven Potential [leisten]“, Spielformen des Archivalischen und verschiedene analytische Zugriffe auf das Archiv aufzeigen und seine werkgeschichtliche Bedeutung ausloten. Die Diversität der versammelten Ansätze ist explizites Programm, die multilinguale wie multiperspektivische Konzeption des Sammelbandes bestimmend: Der Band, in der Reihe „Beide Seiten. Autoren und Wissenschaftler im Gespräch“ erschienen, einer Kooperation des Göttinger Wallstein Verlags und des Züricher Chronos Verlags unter der Herausgeberschaft des Schweizerischen Literaturarchivs, enthält alternierend deutsch- und französischsprachige Beiträge, deren Autoren unter anderem der Direktor des französischen „Institut des textes et manuscrits modernes“ (Pierre-Marc de Biasi), der Direktor des Österreichischen Literaturarchivs der Österreichischen Nationalbibliothek (Bernhard Fetz), der Direktor des Deutschen Literatur Archivs Marbach (Ulrich Raulff) und die Leiterin des Schweizerischen Literaturarchivs (Irmgard M. Wirtz) sind. Neben den wissenschaftlichen Auseinandersetzungen stehen zwei Schriftsteller-Interviews (mit Sylviane Dupuis und Christian Haller).

Der Fokus des Bandes richtet sich auf die Archivfunktionen des Speicherns und der produktionsästhetischen Neu-Inspiration, auf das Spannungsverhältnis von privaten Aufzeichnungen und öffentlicher Archivinstitution und der literaturwissenschaftlichen Fruchtbarkeit der critique génétique. Die im Archiv enthaltene ‚Poetik‘, die die Autoren des Bandes in den Blick nehmen, ist das Resultat der Werkbildungsstrategien und Selbstkonstruktionsanstrengungen von Schriftstellern, Ergebnis der Formung des eigenen Nachlasses, das nie nur neutrales Aufbewahren bedeutet – und beim Übergang in ein institutionalisiertes Archiv überdies weiteren Wissensordnungs- und Selektionsmechanismen unterworfen wird. Wenn auch nicht explizit im Band so benannt, kann Archivpoetik aber auch das Schreiben aus und mit dem Archiv heißen, der produktive Zugriff auf das Archiv im Schreibprozess, wie er etwa für Christian Hallers Trilogie des Erinnerns („Die verschluckte Musik“, „Das schwarze Eisen“, „Die besseren Zeiten“) konstitutiv ist. – Die Beiträge des Sammelbandes bieten insgesamt luzide wie spannend zu lesende Analysen zum Themenfeld ‚Literaturarchiv‘, wenn auch der Aufsatz von Krzysztof Pomian aufgrund seines überwiegend deskriptiven Charakters etwas abfällt.

Was der Gang ins Archiv, der Blick in Kästen und Mappen zutage fördert, trägt zu einem nicht geringen Anteil die Züge biografischer Anekdoten. Und so erzählt denn der Band von Victor Hugo, der seine Manuskripte in wasserfesten Säcken und feuerfesten Safes aufbewahrte, oder von Martin Heidegger, der seine handgeschriebenen Vorlesungen in Buchschubern anordnete, die schon physisch den Eindruck einer Totalität vermitteln. Aber auch das, was zwar materiell unwiederbringlich verloren ist, aber dennoch im kulturellen Gedächtnis verankert bleibt, als lauernder Schrecken im Hintergrund des Archivwesens, wird erzählt: Der Verlust von Walter Benjamins Aktentasche bei der Flucht über die Pyrenäen oder etwa der Diebstahl von Georg Simmels Koffer in einer Straßenbahn. – Welch Schätze in Archiven lauern, lassen zahlreiche, teils farbige, Abbildungen exemplarisch erahnen.

Nicht ausgelassen wird die neuralgische Frage des Medienumbruchs, die „digitale Revolution“ seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert in ihren Auswirkungen sowohl auf die Arbeitsprozesse der Schriftsteller als auch auf die archivalische Speicherung und die Arbeitsweise der critique génétique. Aufschlussreich ist nicht nur die zeitliche Nachbarschaft, die Pierre-Marc de Biasi zwischen der critique génétique und dem Aufkommen der ersten Computergeneration aufzeigt, sondern auch der Zusammenfall einer Ubiquität digitaler Spuren mit dem raschen Veralten und Wechsel digitaler Träger. „Cette culture digitale qui a réalisé le miracle de pouvoir virtuellement tout conserver aura in fine tout perdu“, lautet de Biasis pessimistisches Fazit, das allerdings die Macht der Distribution und Zirkulation gegenüber dem einzelnen Trägermedium unterschätzt.

Hervorzuheben ist des Weiteren Andreas Kilchers Ansatz einer enzyklopädischen Archivpoetik, der an Umberto Ecos Enzyklopädie-Begriff anschließt und eine potentiell unendliche Kontextualisierung beinhaltet. Kilcher verdeutlicht seinen theoretischen Ansatz, indem er als Beispiel eine „enzyklopädische Analyse“ von Franz Kafkas „Bericht für eine Akademie“ anschließt. Diese offenbart jedoch nicht nur die Fruchtbarkeit, sondern zugleich auch die Grenzen, die der „unendlichen Semiose“ (nach Eco im Anschluss an Charles Sanders Peirce) in der Praxis gesetzt sind: Die enzyklopädische Analyse „muss notwendig unabgeschlossen bleiben bzw. zumindest aus pragmatischen Gründen abgebrochen werden, auch wenn sie potentiell ‚unendlich‘ ist“.

Ungewöhnlich und ausgesprochen reizvoll zugleich ist, dass in einen Sammelband über das Archiv auch eine Gegenposition, geradezu eine Apologie des Vergessens, aufgenommen ist: Die Autorin Sylviane Dupuis spricht im Interview mit Stéphanie Cudré-Mauroux von der Unwiederbringlichkeit und Unwiederholbarkeit des Vergangenen, dessen definitiven Schwellenpunkt für sie die Publikation eines Werkes markiert. „Ce qui dort dans les cartons“, das ist von sich selbst Abgelöstes, gleichsam Fremdes. Das Vergessen ist nichts notwendigerweise Ächtenswertes: „Je suis sûre que si je rouvrais mes cartons je découvrirais des étapes de la gestation de mes livres que j’ai complètement oubliées… Donc pourquoi pas?“ Und weiter: „Il me semble aussi qu’on publie trop en matière de correspondances, d’inédits… À la longue, il y a un risque de brouillage, de confusion ou d’équivalence entre l’œuvre symbolique construite, la forme élaborée, et le reste, qui n’a ni la même densité, ni le même projet, et n’était pas destiné à la publication.“ – Deutlicher kann man den Hiatus zwischen literaturwissenschaftlichen Prämissen und Autorpoetiken wohl nicht formulieren.

Titelbild

Stéphanie Cudré-Mauroux / Irmgard M. Wirtz (Hg.): Literaturarchiv - Literarisches Archiv. Zur Poetik literarischer Archive.
Wallstein Verlag, Göttingen 2013.
152 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783835311336

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