Die Fremde als Heimat

Rolf Parr beleuchtet Affinitäten zwischen Heimatkunstbewegung und Kolonialismus

Von Linda MaedingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Linda Maeding

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Heimat“ gehört wohl eher nicht zu den Begriffen, die man aus europäischer Perspektive mit „Kolonialismus“ assoziiert – viel offensichtlicher scheint die Verbindung mit „Fremde“. Dies bezeichnet auch genau die Herausforderung, vor der sich die Förderer des deutschen Kolonialprojekts gestellt sahen: Fremde in Heimat zu verwandeln, oder:  in der Fremde Heimat entstehen zu lassen. In seiner Studie „Die Fremde als Heimat“ gelingt es Rolf Parr, ‚Heimat‘ gleich mehrfach im kolonialen System zu verorten. Dafür zieht er zwei Phänomene heran, die auf unterschiedliche Weise mit dem deutschen Kolonialismus verbunden sind: die Heimatkunstbewegung, die angesichts Industrialisierung und Urbanisierung um die Jahrhundertwende in Deutschland einen schwierigen Stand hatte und daher von der geopolitischen Fokus-Verschiebung auf die ländliche Welt der Kolonien profitierte, sowie die einige Zeit später popularisierten Expeditionen, die der Germanist als „symbolische Besitznahmen der Fremde für die Heimat“ auffasst.

Interessant ist vor diesem Hintergrund, dass koloniale Heimatkonstrukte einerseits das Mutterland überholten, andererseits aus dessen Vergangenheit schöpften: „Das, woran man sich im Mutterland nur noch erinnern konnte, sollte in den Kolonien zeitgleich zurückgewonnen werden, womit die retrospektive Blickrichtung der Heimatkunstbewegung und die prospektive der kolonialen Utopie tendenziell zusammenfielen.“ Zwischen ca. 1885 und dem Beginn des Ersten Weltkriegs, so eine der Hauptthesen der Studie, haben die konservativ-völkisch ausgerichtete Heimatkunstbewegung und die Kolonialliteratur große Affinitäten entwickelt. Die Heimatkunstbewegung sah in den noch stark agrarstrukturierten Kolonien einen Raum, das eigene Programm zu realisieren – und dieses dann über die Kolonialliteratur wieder zurück in die Heimat zu importieren. Den Kolonien wiederum habe die Heimatkunstbewegung die Möglichkeit geboten, sich als „besseres Deutschland in Übersee“ zu inszenieren.

So lasse sich erklären, dass der von der Heimatkunst beeinflusste norddeutsche Autor Gustav Frenssen mit „Peter Moors Fahrt nach Südwest“ (1906), einem „Feldzugbericht“ über den Herero-Nama-Krieg, unerwartet – gemessen an den vorherigen Schauplätzen seiner Bücher – einen Erfolg erzielte. Irritationen und gar konstitutive Konflikte traten beim Vorgehen, die Heimat in der Fremde einzurichten, dagegen insbesondere auf der Kehrseite der Heimatkunstbewegung zum Vorschein: im Exotismus.

In der auf den Verlust der deutschen Kolonien folgenden Periode, so Parr, dienen die Expeditionen nicht zuletzt der Suche nach Ersatz für die verlorene Heimat in der Fremde (ebenso wie für die unzureichende Heimat im Mutterland). Das Besondere an den Reisen in die ehemaligen Kolonien lag dabei im Kontext der Heimatfrage darin, dass Rückkehr hier von vorneherein zum Ablauf gehörte, obwohl die Fremde zumindest symbolisch in Besitz genommen werden konnte.

Parr unterscheidet drei Modelle im Verhältnis von Fremde und Heimat – die heimatkünstlerische Projektion auf die Fremde, die koloniale Aneignung von Fremde als Heimat sowie das im Medium der Expedition vollzogene Erschließen der Fremde für die Heimat –, die ab etwa 1910 auch nebeneinander und in Mischformen auftreten. Diese Differenzierung dient Parr dann auch als Gliederung seiner Studie, die den drei Modellierungen von Heimat anhand exemplarischer Ereignisse und Textkorpora nachgeht. So wird ausgehend von der Rezeption der Burenkriege (1899-1902) – die zeitgenössische Burenbegeisterung wird nicht zuletzt am Schriftsteller Wilhelm Raabe festgemacht – aufgezeigt, wie Deutschland diskursiv einen „Imperialismus mit Heimatverbundenheit“ vertreten konnte. Ein weiteres Kapitel thematisiert am deutschen Vernichtungskrieg gegen die Herero und Nama zwischen 1904 und 1908 die „Kopplung von militärisch-imperialem Kolonialismus und Heimatkunstideologie“, aber auch den Widerspruch zwischen „Verheimatung“ und „Exotismus“ der Kolonien, wofür Hans Grimms „Südafrikanische Novellen“ von 1913 herangezogen werden. Der dritte Teil widmet sich der Nachgeschichte des offiziellen Kolonialismus – Reisen in die ehemaligen Kolonien nach 1918 am Beispiel des im Medienbetrieb überaus präsenten Explorationsmodells.

Vor die Aufgabe gestellt, Fremde in Heimat zu verwandeln und die Kolonien „dem deutschen Reichskörper […] anzuschließen“, wurde auf unterschiedliche Mittel und Diskurse zurückgegriffen, die das Buch damit in seinen drei Teilen aufarbeitet. Ein Ausblick auf Heimatkonstrukte in den 1950er- bis 1970er-Jahren zeigt zudem, wie vielfältig Heimat-Modelle des Kolonialismus und der Expeditionen nachwirken und konkret für das Kino der Zeit adaptiert werden:  im starken Regionalismus, der den Nationalismus-Diskurs der zurückliegenden Nazi-Diktatur umgeht, ebenso wie im Boom des – ebenfalls auf nationalistische Elemente verzichtenden – Expeditionenfilms, zu denken ist hier nur an Bernhard Grizmeks Tierfilme.

Vielleicht hätte sich der Leser nach diesem assoziationsreichen Ausblick oder auch in Verbindung mit ihm einige Schlussworte gewünscht, die das Dargestellte noch einmal deutlicher mit Blick auf seine Aktualität gebündelt und neu ausgerichtet hätten. Zwar leistet der Ausblick auf das deutsche Kino ab den 1950ern und das Aufkommen des Migrationsthemas diese Funktion stellenweise, doch wissen wir bis auf einen kurzen Hinweis auf die deutsche Gegenwartsliteratur nicht, ob und wie die Kontinuitäten und Diskontinuitäten sich in anderen Diskursen spiegeln – aber das gäbe genug Stoff für weitere Studien.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Rolf Parr: Die Fremde als Heimat. Heimatkunst, Kolonialismus, Expeditionen.
Konstanz University Press, Paderborn 2014.
250 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783862530519

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