„Ein Stück in Bewegung“

Das neue Hamlet-Handbuch hält, was es verspricht

Von Caroline MannweilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Caroline Mannweiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„To bäh or not to bäh, that is the question“ – so kommentierte Georg Christoph Lichtenberg einen Disput zwischen ihm und Johann Heinrich Voss über die „Pronunciation“ der „Schöpse“, der griechischen Schwa-Laute, die Voss an die, von ihm angenommene, Aussprache im Griechischen anpassen wollte, weshalb etwa aus „Antigone“ fortan „Antigonä“ werden solle.

Dass dieses, wie gewohnt köstlich pointierte, lichtenbergsche Wort aus dem Jahre 1782 den Hamlet-Monolog „to be or not to be“ abwandelt, bedarf keiner Erläuterung. Erläuterungsbedürftig bleibt aber nach wie vor, wie aus Shakespeares Drama ein derart omnipräsentes Werk werden konnte, das bereits zu Lichtenbergs Zeiten als Zitatenlieferant diente und bis heute diese Rolle nicht eingebüßt hat. Nun wäre es dem Gegenstand unangemessen, würde ein Hamlet-Handbuch tatsächlich eine „Erklärung“ dieser unglaublichen internationalen Erfolgsgeschichte des Dramas versuchen. Und doch muss ein Handbuch sich zu dieser Geschichte verhalten und dies tut das soeben im Metzler-Verlag erschienene, von dem Theaterwissenschaftler Peter W. Marx herausgegebene Hamlet-Handbuch in überzeugender Art und Weise. Denn das Handbuch begnügt sich weder damit, die weltweite Verbreitung des „Hamlet“ in „erwartbaren“ Kapiteln zur internationalen Rezeption sowie zur Rezeption in unterschiedlichen Medien zu kartieren, noch verbleibt es im in Handbüchern nahezu unvermeidlichen Gestus der Bestandsaufnahme. Zwar ist ein gewisses Maß an Empirie ungemein hilfreich und in Handbüchern wesentlich, um solchen Phänomenen wie Shakespeares „Hamlet“ beizukommen. Doch wo diese Empirie steril bleibt, befördert sie nur die Mystifizierung des Gegenstandes.

Dem zu entgehen, bietet das „Hamlet-Handbuch“ zunächst eine konzentrierte interpretatorische Annäherung an das Werk, die naturgemäß nicht nach Eindeutigkeiten sucht, aber solche Aspekte herausarbeitet, die die Deutungsvielfalt und Wandlungsfähigkeit „Hamlets“ begründen. Dies zeigt sich bereits in den ersten Kapiteln zur Stoffgeschichte: Diese informieren nicht nur sachkundig, sondern setzen sinnvolle Akzente, die zum Verständnis der Veränderungspotentiale des Stoffes bei Shakespeare beitragen. Hier ist etwa an den Wahnsinn, die „antic disposition“, Hamlets zu denken, die in den Quellen eine eindeutig strategische Maßnahme Hamlets ist, bei Shakespeare allerdings Dimensionen erhält, die neue Deutungen zulassen: Deutungen, die von Inszenierungen, in denen Hamlet tatsächlich „verrückt“ erscheint, bis zu Forschungspositionen reichen, die, gegen jede Psychologisierung, in Hamlets Wahnsinn Züge der aus dem englischen Mysterienspiel vertrauten Teufelsfigur nachweisen.

Die große Leistung des Handbuchs ist es, dem Leser eine Orientierung durch diese Interpretationsvielfalt zu geben, wozu besonders der – auf einen ersten, Stoffgeschichte und Ausgaben präsentierenden Teil – folgende Abschnitt „Deutungsprobleme“ dient. Dieser bündelt geschickt Fragen, die der Text aufwirft: In den Blick genommen werden „The Ghost“, „Das Komische“, „The Tragic“, „Meta-Theatricality and Screen-Scenes“, „Das Politische“, „Hamlets Misogynie?“, „Fortinbras“, „Yorick“, „The Excess of Violence“. Was auf den ersten Blick unsortiert erscheinen mag, ist es auch auf den zweiten, aber genau deshalb der Idiosynkrasie des Textes angemessen. Gewiss wäre auch eine chronologische Systematik möglich gewesen, die eine historische Abfolge von Deutungen und Kontroversen präsentiert, aber das Handbuch zieht es vor, die selbstverständlich vorhandenen historischen Präzisionen innerhalb der Kapitel zu verhandeln und nicht zum Organisationsprinzip zu erheben.

Dies gilt auch für den folgenden Abschnitt, in dem zentrale „Lesarten“ des Textes vorgestellt werden, von den psychologischen Ansätzen über Lesarten, die das Meta-Theatrale in Hamlet fokussieren, bis hin zu historischen Lesarten. Darunter fallen sowohl solche Ansätze, die die historische Situierung des Stückes betonen, als auch solche, in denen „Hamlet“ zur „Metapher des Geschichtlichen“ überhaupt wird. Insbesondere letztere Lesart, vertreten etwa durch Carl Schmitt, der den „Einbruch der Zeit“ in Hamlet diagnostiziert und Hamlet gewissermaßen als Drama des „Ausnahmezustandes“ liest, zieht sich dabei als einer der vielen faszinierenden roten Fäden durch das Handbuch. Denn bei Schmitt ist exemplarisch angelegt, wie Hamlet zum Träger überindividueller Merkmale wird und damit zur Projektionsfläche für Kollektividentitäten. Dieser Zusammenhang bestimmt ein gesamtes Großkapitel des Handbuchs, das „Hamlet als Denkfigur in nationalen und regionalen Diskursen“ zum Gegenstand macht und dabei weit über das berühmte, eigentlich kritisch gemeinte Freiligrathsche Wort „Hamlet ist Deutschland“ hinausgeht. Spanien, die USA, Polen, Russland, Israel, Kanada, Indien sind nur einige der Länder, die hier einer näheren Betrachtung unterzogen werden.

Dass sich dabei Redundanzen zu den ihrerseits international angelegten Großkapiteln „Rezeption auf der Bühne“ sowie „Fortschreibungen“ nicht vermeiden lassen, liegt auf der Hand. Es scheint kaum möglich, Hamlet als Denkfigur zu analysieren, ohne dabei auf Inszenierungen und produktive Rezeptionen des Stücks in der Literatur einzugehen. Trotzdem lohnt das Extrakapitel, weil es unter dem Stichwort „Diskurs“ verschiedenste Textsorten berücksichtigen kann (etwa journalistische) und den Blick für „Hamlet“ als, vom literarischen Text gelöste, Chiffre schärft. Nicht zuletzt dient damit dieses Kapitel auch gewissermaßen als Brücke zum letzten Kapitel „Hamlet in der Populärkultur“, das nach Kapiteln zu „Hamlet in der bildenden Kunst“ und „Hamlet im Film“ den Abschluss des Handbuchs bildet. Fernsehserien, Internetformate, Comic, Kinder- und Jugendliteratur, Krimi sind dabei untersuchte Gattungen, desweiteren werden Hamlet-Zitate aufgesucht, in Werbetexten, aber auch in ihrer Prägung der englischen Sprache und Literatur. Sympathisch an diesem letzten Kapitel ist dabei eine vorurteilsfreie Herangehensweise, was auch bedeutet, dass im weitesten Sinne produktive Rezeptionen „Hamlets“ im Internet nicht schon deshalb als besonders innovativ und vor allem kreativ angesehen werden, weil sie eben im Internet stattfinden. Alles in allem überzeugt dieses letzte Kapitel allerdings weniger durch die Ausführlichkeit der Analysen als durch die Präsentation von Material und wertvolle Hinweise auf Rechercheinstrumente und –ressourcen. www.hyperhamlet.unibas.ch – eine online-Datenbank, die Hamletzitate in allen denkbaren literarischen Kontexten aufführt (mit ordentlichen Nachweisen!), ist dabei nur eine von vielen, aber ungemein spannenden Ressourcen.

Beim Stöbern in eben dieser Datenbank findet man denn auch das eingangs zitierte „to bäh or not to bäh“ Lichtenbergs. Dass dieser das Drama „Hamlet“ kannte, ist nicht weiter verwunderlich, interessant sind aber dessen begeisterte Ausführungen zu David Garrick (1717 – 1779), dem berühmten Darsteller Hamlets, der damit nicht nur eine Rolle, sondern eine Art und Weise zu spielen prägte. David Garrick, aber auch vielen anderen wichtigen Hamlet-Darstellern sind im Handbuch eigene Kapitel gewidmet, die zu den (zahlreichen) Höhepunkten der Publikation gehören. In ihnen laufen wichtige Gedanken, die das Buch durchziehen, zusammen: Zum einen machen sie deutlich, wie sich „Hamlet“, die Figur, von „Hamlet“, dem Drama, abgelöst hat, eine Verselbständigung, die im Werk angelegt ist, die aber durch Entwicklungen der Theaterlandschaft entscheidend vorangetrieben wurde: Mit dem Aufkommen der „Virtuosen“ und einer Theaterpraxis, die auf Publikumswirksamkeit mehr denn auf Werktreue achtete, war der Boden für eine grandiose Erfolgsgeschichte „Hamlets“ bereitet, die auf dem Potential der Rolle – man denke nur an die riesigen Redeanteile und die zahlreichen Monologe – beruhte. Zum anderen zeigen sich in den Ausführungen zu den Hamlet-Darstellern aber auch die Inanspruchnahmen der Figur für kollektive Identitätskonstrukte: Kann ein Jude Hamlet spielen? Ist der viel zu heißblütige Südländer nicht gänzlich ungeeignet, den wesenhaft „deutschen“ Hamlet zu spielen? Und welchen Gipfel der Unangemessenheit stellen weibliche Hamlet-Darstellerinnen dar? Diese Fragen waren in bestimmten historischen Kontexten durchaus ernst gemeint, wie das Handbuch eindrücklich schildert.

Dass in einer der bedeutendsten Inszenierungen „Hamlets“ nach dem Zweiten Weltkrieg eine Frau die Hauptrolle spielte, nämlich Angela Winkler in Zadeks „Hamlet“, gehört selbstverständlich auch zum umfassenden Bild, das das Handbuch zum Thema der Hamlet-Darsteller, aber auch der modernen Inszenierungen des Stückes zeichnet. Ein Schwerpunkt liegt dabei gewiss auf Inszenierungen in Deutschland, aber auch etwa Peter Brooks oder Robert Lepages Bearbeitungen werden ausführliche Darstellungen gewidmet. Besonders lesenswert ist in diesem internationalen Kontext ein überaus unterhaltsamer englischsprachiger Beitrag zu Edward Gordon Craig’s Hamlet-Inszenierung in Moskau 1912, die als bedeutende Kooperationsarbeit zwischen Craig und Stanislawski in die Theatergeschichte einging, trotz des Fiaskos, dem diese Kooperation in weiten Teilen ähnelte.

An dieser Stelle mag noch ein Wort zu den vielen englischsprachigen Kapiteln des Handbuchs angebracht sein: Sie sind ein Gewinn. Nicht zuletzt, weil sie quasi performativ das einlösen, was das Vorwort verspricht, nämlich „Hamlet“ als ein „Stück in Bewegung“ zu begreifen – klingt nach Vorwort-Rhetorik, ist aber tatsächlich gelungen!

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Peter W. Marx (Hg.): Hamlet Handbuch. Stoffe, Aneignungen, Deutungen.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2014.
550 Seiten, 79,95 EUR.
ISBN-13: 9783476023520

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