Mundus sexualis

Der kritische Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch legt mit „Sexualitäten. Eine kritische Theorie in 99 Fragmenten“ sein Opus magnum vor

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Um die Zukunft der menschlichen Sexualität ist es düster bestellt. Jedenfalls nach Ansicht der Sexualwissenschaft, die ihrem Gegenstand seit jeher düstere Prognosen ausstellt. Schon Sigmund Freud sah die Sexualität von der fortschreitenden Moderne so schwer beschädigt, dass er sie 1930 als eine „in Rückbildung befindliche Funktion“ bezeichnete, vergleichbar dem Gebiss oder der Kopfbehaarung.

Und heute? Ist im Zeitalter des Neoliberalismus aus der Sexualität „zunehmend der Sex geworden“, so Volkmar Sigusch, „der sich als lebender Leichnam lärmend an der Konsumfront zum Dienstantritt meldet“. So unterdrücke die öffentliche Dauerpräsenz von Sex das Begehren der Individuen längst wirkungsvoller als alle kirchlichen Verbote der Vergangenheit. Genügte früher schon der Anblick eines entblößten Unterarms, um einen Betrachter zu entflammen, löst die allgegenwärtige Nacktheit inzwischen oft nur noch ein Gähnen aus.

Nach der Lektüre von Volkmar Siguschs Opus magnum „Sexualitäten“ muss man allerdings sagen: Für einen Zombie ist die Sexualität noch immer ganz schön vital. Erfreulich aktiv zeigt sich allerdings auch der 73-jährige Autor, einer der weltweit bedeutendsten Sexualforscher: Denn Sigusch legt seit 2006, dem Jahr seiner Emeritierung – das die Politik gleich zur Einsparung seines renommierten Frankfurter Instituts nutzte –, ein gewichtiges Buch nach dem anderen vor. Darunter eine voluminöse „Geschichte der Sexualwissenschaft“ (2008), ein „Personallexikon der Sexualforschung“ (2009) und nun, als Summe und Vermächtnis seiner jahrzehntelangen Arbeiten als Theoretiker wie als Therapeut, eine „kritische Theorie in 99 Fragmenten“.

Der Untertitel weist wie der Plural „Sexualitäten“ auf eine zentrale Beobachtung des Forschers hin: In der spätmodernen Gesellschaft ist die sich seit jeher stets wandelnde Sexualität etwas völlig anderes als in allen Epochen zuvor – nämlich ein immer buntscheckiger, chaotischer werdendes Etwas. Die Vielfalt reicht vom sexsüchtigen Youporn-Konsumenten über den von Seitensprungportalen vermittelten Gelegenheitssex bis zu den neuesten Schönheitstrends wie dem „Analbleaching“, der Aufhellung der Schließmuskelfarbe aus ästhetischen Gründen. Eine Vielfalt, die sich gleichermaßen durch Fort- wie Rückschritte auszeichne: Das homosexuelle Ehepaar von nebenan mag selbstverständlich geworden sein, aber die Sexualität des Kindes werde im Zeichen eines entfesselten Missbrauchsdiskurses stärker tabuisiert denn je.

Am Ende weiß der Leser kaum, was beeindruckender ist: Die schier grenzenlose Neugier des Forschers für das „polysexuelle Vermögen“ des Menschen, das sich heute in immer neuen Formen manifestiert – oder jene Formen selbst, wie etwa die „Objektophilie“, bei der Menschen in einer Intimbeziehung mit zum Beispiel einer Metallbearbeitungsmaschine leben. Wer letzteres einfach nur für „krank“ hält, sollte sich einmal selbst dabei beobachten, wie er mit seinem Smartphone umgeht – und im Vergleich dazu mit seinem Partner.

Gerade vor jenen Tendenzen „affirmativer“ Sexualwissenschaftler, alles, was die sogenannten Normalen beunruhigt oder abstößt, eilig zu pathologisieren und medikamentös oder gar chirurgisch aus der Welt zu schaffen, warnt Sigusch eindringlich. Er ist – nicht anders als einst Sigmund Freud – davon überzeugt: „Perverse sind wie wir alle, nur ein bisschen mehr.“ Als „kritischer“ Sexualwissenschaftler interessiert er sich, Georg Büchner zitierend, besonders für das, „was in uns hurt, stiehlt und mordet“, das Menschlich-Allzumenschliche also. Und singt auf die Kraft der Perversionen ein eindrucksvolles und so noch nie gehörtes Loblied: „Die Lust, die aus einer Perversion gezogen werden kann, ist einzigartig“. Dass sich manche Paare einer anhaltend lebendig bleibenden Sexualität erfreuen können, liegt nach Sigusch oft gerade in der Pflege einer kleinen gemeinsamen Perversion.

Eine weitere Gemeinsamkeit mit Freud: Auch Sigusch ist als Autor ein Poetosexologe, soll heißen: Seine Wissenschaftsprosa hat literarische Qualitäten, dank seiner Vorliebe für eine metaphorisch-lebendige Sprache. Die gelegentlich aber ins Unfreiwillig-Komische kippen kann, etwa wenn Sigusch von den „erfolgreich abgestunkenen und abgesahnten“ „Feuchtgebieten“ der Charlotte Roche schreibt. Das mindert aber die Leselust an seinen Expeditionen durch die „Mundus sexualis“ so wenig wie einige Wiederholungen oder Forschereitelkeiten, wie eine Auflistung sämtlicher Publikationen, die seiner 2005 erstmals präsentierten These von der „neosexuellen Revolution“ zustimmen.

Die Entdeckung und Erforschung dieser Revolution ist das Kernstück von Siguschs Theorie, sie sei die dritte sexuelle Revolution, nach einer ersten um 1900 und einer zweiten von 1968. Eng verbunden mit den global entfesselten Kräften des Kapitalismus sei die Sexualität unserer Zeit geprägt von Prozessen des Trennens, Zerstreuens und Vervielfältigens. So wurde inzwischen die Fortpflanzung dank künstlicher Befruchtung vom Sex getrennt oder die körperliche Erregung mittels Viagra vom Lustempfinden.

Und im Internet löst sich die Sexualität in immer speziellere Praktiken, Fetische und Neigungen auf, wie die wuchernden Kategorienleisten diverser „Free Porn“-Seiten bezeugen. Selbst vermeintliche Urkonstanten wie die Zweigeschlechtlichkeit verflüssigten sich heute, vervielfältigten sich zu immer neuen Geschlechtern, „Selfgender“, „Transgender“ oder „Intergender“, denen man alle laut Sigusch – der 1981 in Deutschland zur Verabschiedung des „Transsexuellengesetzes“ beitrug – die entsprechende gesellschaftliche Anerkennung geben sollte.

Interessanterweise scheinen aber nicht alle Neosexualitäten das gleiche Maß an Verständnis und Sympathie bei Sigusch zu finden, so fremdelt er erkennbar mit den „Zoophilen“, denen die eigenen Bedürfnisse häufig wichtiger seien als die ihrer Liebsten. Dagegen genießen seinen größten Respekt die „Asexuellen“ – jene also, die glücklich und zufrieden ganz frei von sexuellen Bedürfnissen leben. Und die vielleicht als erste von einem postsexuellen Zeitalter zeugen.

Titelbild

Volkmar Sigusch: Sexualitäten. Eine kritische Theorie in 99 Fragmenten.
Campus Verlag, Frankfurt, M. 2013.
626 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783593399751

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