Die digitale Gefahr

Byung-Chul Hans „Im Schwarm. Ansichten des Digitalen“ übt sich in kategorischer Verteufelung der digitalen Entwicklungen

Von Gunnar KaiserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gunnar Kaiser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist nicht schwer, Medienkritik zu kritisieren. Gibt sie sich optimistisch und preist die medialen Innovationen als förderlich für Individuum und Gesellschaft, wirft man ihr Naivität und den Verlust eines auf festen Werten gründenden Menschenbildes vor. Kommt die Medienkritik skeptisch daher und warnt vor den schädlichen Einflüssen, der unreflektierten Übernahme in den Alltag, so muss sie sich den Stempel des Ewiggestrigen gefallen lassen. Zu leicht kann man diesem Ansatz eine Wiederholung des immergleichen Arguments vorwerfen, das durch den Fortgang der Geschichte längst entkräftet scheint. Schon immer wurde das neue Medium zugunsten des alten abgelehnt, aus Furcht vor dem Neuartigen an sich und vor der Unsicherheit, die es mit sich bringt.

Kulturkritische Ablehnung offenbart sich schnell als ressentimentgeladener Konservativismus um seiner selbst willen: Der Schrift wurde vorgehalten, sie mache das Einüben von Gedächtnistechniken überflüssig; der Buchdruck wurde zum Feind klerikaler Deutungshoheit, somit zum Feind der ‚einen Wahrheit‘; das Fernsehen gefährdete das Lesen und die gesamte Kultur an sich. Kritik am Romanlesen wird zur Verteidigung desselben, sobald die ersten Comics zur kollektiven Lektüreerfahrung jüngerer Schichten werden. Heutzutage gilt das Comiclesen selbst unter Oberstudienrätinnen und -räten nicht mehr als anrüchig, sondern als Teilhabe an einer als künstlerisch innovativ geschätzten Literaturform – sowie als Ausweis des eigenen weltoffenen Kulturbegriffs.

Oft fehlte medienkritischen Ansätzen dieser Art ein volles Bewusstsein für die Möglichkeiten, die die neuen Medien mit sich bringen, sowie für den klugen Umgang, den eine Gesellschaft mit ihnen zu lernen in der Lage ist. Dass das neue Medium das alte selten verdrängt, sondern mit ihm koexistiert, synergetisch gar, ist eine weitere Erfahrung, die einer einseitig warnenden Kritik von vornherein den Wind aus den Segeln nehmen müsste.

Heute sind es eben das schnell produzierte eBook, der Tweet, das Youtube-Video, das Facebook-Like und so weiter, die den Zusammenhalt der Gesellschaft bedrohen. Der Traktat „Im Schwarm. Ansichten des Digitalen“ des Berliner Philosophen Byung-Chul Han versammelt Vorwürfe wie diese in geschliffener, philosophisch grundierter Weise zu einem Frontalangriff auf alles, was an innovativen medialen Phänomenen ausgemacht werden kann. Er gefällt sich in der Pose des Rufers in der Wüste, des Verteidigers von Kulturwerten wie Respekt, Distanz, Dialog et cetera, die er als für den Fortbestand einer lebenswerten Gesellschaft unabdingbar sowie gleichzeitig aufs Höchste gefährdet sieht.

Mit der Behauptung zu beginnen, es gebe eine Krise, ist für einen Essay immer von Vorteil, da dem zu keiner Zeit widersprochen wird. Stets empfinden die Zeitgenossen ihre eigene rasante Epoche als krisenhaft und vergleichen sie mit einer idyllisch vorgestellten Vergangenheit, die es so wahrscheinlich nie gab. Wenn Han nun behauptet, die heutige Krise werde von unserer Blindheit für die Auswirkungen der realen Medien ausgemacht, so gibt er zugleich die Tonart an, in der seine Kulturkritik zu sehen ist: wer uns die Benommenheit durch den unreflektierten Gebrauch neuer Medien nähme, nähme uns auch die gesellschaftliche Krise.

Diese Krise ist für ihn eine des Respekts, da unsere heutige „Skandalgesellschaft“ von einem Verlust an Distanz geprägt sei. Es herrsche die „totale Distanzlosigkeit, in der die Intimität öffentlich ausgestellt wird und das Private öffentlich wird.“ Gerade diese Vermischung von privater und öffentlicher Sphäre verursache einen Verlust an politischer Gestaltungskraft – mit den Shitstorms gehe eine Empörungskultur einher, die den öffentlichen Raum nicht gestalten könne, weil sie selber unkontrollierbar sei. Von Fluidität und Volatilität beherrscht sei ein Diskurs, der sich nur nach der je nächsten Erregung richte. Öffentlichkeit aber benötige Contenance, Dialog, Diskretion, damit sie eine „gesamtgesellschaftliche Sorgestruktur“ aufweisen kann. Diese sei heute zugunsten einer „Sorge um sich“ verloren gegangen.

Verlust allenthalben also. Ähnliche Argumente kennt man nicht erst seit Neil Postman. Wer Hans Schrift in der U-Bahn einer beliebigen westlichen Stadt liest, mag sich fragen, wann und wo die ganze Distanzlosigkeit nun endlich zum Vorschein treten mag. Auch ein Gang durch die Fußgängerzone offenbart nicht, wo hier Intimität und Privatsphäre verloren gegangen wären. Handelt es sich vielleicht bloß um aufgeblasene mediale Phänomene, an denen nur eine bestimmte Schicht teilhat (die in früheren Zeiten zu Gladiatorenkämpfen und zum Pranger auf dem Marktplatz ging), während sich die Mitte der Gesellschaft allgemein akzeptierte Umgangsformen von Respekt und Höflichkeit bewahrt hat? Es gibt heute zwar ungehindertere Möglichkeiten, seine Intimität öffentlich auszuleben und an derjenigen anderer zu partizipieren, aber macht uns das schon zu einer Gesellschaft, die im Begriff ist, den Sinn für Privatheit zu verlieren? Umso erstaunlicher ist es doch, wie viel Distanz die Mitglieder der Gesellschaft Tag für Tag einander zukommen lassen.

Und die propagierte „kritische Öffentlichkeit“: War sie je mehr als – im schlechtesten Sinne – ein Popanz, errichtet von denen, die mediale Macht besitzen, zu dem Zweck, der Gesellschaft die Illusion von Teilhabe zu geben? Und im besten Sinne: eine Utopie, die zu verwirklichen eben erst die Teilhabe einer „kritischen Masse“ zur Voraussetzung hat? Aber Hans Denken ist zu elitär, als dass er sich auf den zurzeit sich verwirklichenden Gedanken einlassen möchte, aus massenhaftem Zugang zu Information und Kommunikation könnte sich auch qualitativ Neues und Besseres ergeben. Ist der öffentliche Diskurs nicht nur ein Scheindiskurs, in dem Relevanz von denjenigen bestimmt wird, die es sich leisten können? Und Öffentlichkeit nur eine Illusion, die mittels Web 2.0 endlich durchbrochen wird? Wer im Zeitalter von Shitstorms den Verlust sinnhafter Produktion bei den herkömmlichen Medien konstatiert, muss sich fragen, wer denn bestimmen soll, was gesellschaftliche Relevanz besitzt – wenn nicht die Gesellschaft selbst. Und sei es mittels Empörung und Skandalisierung. „Besser ist’s, es gibt Skandal, als die Wahrheit kommt zu kurz.“ (Gregor der Große).

Hans Argument lautet, durch die allgemeine Zerstreuung komme der gesellschaftsverändernde Zorn gar nicht mehr auf, da der Skandalgesellschaft dafür die nötige Gravitation und Richtung fehle. Ein „Wir“, zur gemeinsamen Handlung befähigt, die das bestehende Herrschaftsverhältnis frontal anzugreifen vermag, gebe es nicht mehr. Es sei zu einer Schwundstufe verkommen, dem digitalen Schwarm, dem jede Entschlossenheit fehlt.

Die Frage ist nur, ob es dieses „Wir“ je gegeben hat. Worin sieht Han dieses „Wir“? In der veröffentlichten Meinung, in den Kommentarspalten überregionaler Zeitungen, in den Aufsätzen der Philosophieprofessorinnen oder in den Sonntagsreden der Gewerkschaftsführer? Kommen oder kamen aus dieser Richtung etwa gravierende gesellschaftsverändernde Tendenzen? Wird man allen Ernstes behaupten wollen, den Erzeugnissen der Mainstream-Medien komme irgendein kritischer, innovativer Impuls zu? Hat sich das System dieses „Wir“, dem Han nachtrauert, nicht längst – zumindest nach 1968 – manipulativ einverleibt, um es unschädlich zu machen?

Unfreiwillig komisch wird es dann, wenn Han von der Abschaffung der Repräsentation zugunsten der Präsenz spricht. Heute, so sein Argument, wolle jeder selbst direkt präsent sein, anstatt sich von fern „Priestern der Meinung“, den Journalisten und Politikern, repräsentieren zu lassen. Diese Entmediatisierung, der Prozess des Verlusts einer vermittelnden, filternden Elite, führe – so der kulturpessimistische Gemeinplatz – zur Verflachung von Sprache und Kultur. Im gleichen Zug verschwinde auch der Politiker, der seiner Wählerschaft mit einer Vision vorausgehe. Angesichts der Realität in Medien und Politik kann man sich wirklich nicht sicher sein, ob dieses Lob auf den beinahe heroischen Journalisten beziehungsweise Politiker nicht doch ironisch gemeint ist.

Dass mit dem Verlust an Repräsentationsmacht auch eine befreiende Wirkung, nämlich von Zensur und Manipulation einhergehen kann, zeigen die zahlreichen, durch Crowdfunding finanzierten und durch soziale Vernetzung an Vielfalt und Qualität gewinnenden investigativen Blogs, deren aufklärerischen und emanzipatorischen Wert Han nicht anerkennen kann. Wer sich heutzutage zum Beispiel über die Lage der russischen Gesellschaft informieren möchte, ist eben nicht mehr nur auf die doch recht einseitige Darstellung westlicher Medien angewiesen.

Han führt eine Vielzahl weiterer Angriffe gegen die neuen Medien, die in ihrer Stoßrichtung zwar vorhersagbar, in der Originalität ihres Ansatzes jedoch oft erhellend sind. Skype, Facebook, Google Glass, die Technik des Touchscreens – alles wird dem kulturkritischen Blick des Phänomenologen unterworfen. Bemüht werden zu Deutungszwecken Martin Heidegger, Jean-Paul Sartre, Jacques Lacan … die üblichen Verdächtigen. Gerade was Sartres Blick-Theorie angeht, kann Han diese Referenzen geschickt nutzen. Dieser Part ist dementsprechend auch der stärkste des Traktats.

Doch argumentative Ausgewogenheit ist Hans Sache nicht. Auf mögliche Gegeneinwände zu reagieren, dazu lässt er sich nicht herab. Hier wird nicht erörtert, hier wird keine Gegenseite wahr- und ernst genommen und deren Kontra abgewägt. Han sieht seine Aufgabe offenbar darin, das Digitale von allen Seiten her zu attackieren und demjenigen, der sich schon immer einmal über die wahrlich enervierende Art der Teilnehmer des öffentlichen Nahverkehrs, nur noch auf Bildschirme zu starren, aufgeregt hat, Kanonenfutter für seine Hasstiraden zu liefern. Kanonenfutter mit philosophiegeschichtlicher Provenienz. Nie ist es die Absicht, das ahnte man bereits nach der Lektüre der zuvor erschienenen Traktate „Transparenzgesellschaft“ oder „Müdigkeitsgesellschaft“ und weiß es jetzt nach den ersten Sätzen: Nie ist es die Absicht, eine Reihe von Argumenten logisch aufeinander aufzubauen, die in der Lage wären, das Behauptete zu beweisen. Und so bleibt es aufs Ganze gesehen nicht mehr als eben das: Behauptung.

Auch die empirische Überprüfung von Thesen und Argumenten unterlässt Han. Wie seine Vorgänger ist auch dieses Bändchen schmal und mit Vergnügen zu lesen, weil es gut geschrieben ist und seine im Grunde sympathische Anti-Haltung recht originell an den Tag legt. Doch mit Fakten über den tatsächlichen Gebrauch neuer Medien, mit psychologischen, neurobiologischen, soziologischen oder pädagogischen Untersuchungen über den Umgang mit Computer und Internet, gar mit Statistiken, möchte sich der Philosoph nicht abgeben. Er bekräftigt damit diejenigen, die seine Schriften (und die Philosophie gleich mit) für vorurteilsbeladene Besserwisserei ohne Anker in der Empirie halten. Die Bücher Nicholas Carrs oder Manfred Spitzers machen zumindest in dieser Hinsicht vor, dass es auch anders geht.

Hans wichtigstes Argument ist die Behauptung, mit den neuen Medien gehe ein Verlust der Fähigkeit einher, etwas ganz Anderes, Singuläres zu erzeugen. Mit der digitalen Kultur ziehe eine Positivität ein, die Han exemplarisch am „Gefällt mir“ von Facebook festmacht. Ein „Gefällt mir nicht“ ist nicht vorgesehen; es wäre Ausweis kritischer Negativität. (So gibt es also keinen Button, der es dem Facebook-Nutzer erleichtern würde, das Fehlen eines „Gefällt mir nicht“-Buttons kritisch und mit einem Mausklick zu beanstanden. Er müsste dafür schon ein paar Zeilen in seine Statuszeile schreiben. Da er dafür zu bequem ist, bleibt die Kritik aus.) Der Möglichkeitssinn, der dem Faktischen ein utopisches Element entgegenhält, verliere sich somit unter dem größer werdenden Druck des Digitalen.

An diesem Argument lässt sich der Haupteinwand gegen Hans neuestes Buch festmachen. War Negativität denn je irgendwo vorgesehen? War Kritik je „bequem“ – musste man nicht immer wenigstens ein paar Zeilen schreiben, um die herrschenden Verhältnisse anzuprangern? Gibt oder gab es etwa je ein Medium, das per se Alterität und utopisches Denken fördert? Ist Stille, Distanz, das Singuläre nicht immer eben das: singulär?

Han scheint Angst vor dem Verlust einer Vergangenheit zu haben, die es so nie gab. Ihn scheint die Furcht vor einer Welt umzutreiben, in der die Masse der Menschen so wird, wie sie bereits ist und wohl stets war. Das Anderssein (das ist fast ein analytisches Urteil) war zu allen Zeiten eine Sache der Wenigen, und diese werden sich auch zu allen Zeiten den Verdummungsangeboten widersetzen müssen, um anders zu bleiben. Neues zu schaffen, im emphatischen Sinne zu denken und zu handeln, sich ins Unbekannte, Unbegangene zu wagen, wie Han heideggernd formuliert – wann waren das je gesellschaftlich geförderte und praktizierte Tugenden? Dass dies im Gegenteil stets eine solitäre Angelegenheit war, dafür ist die Ursache wohl nicht in den medialen Umgebungen zu suchen. Und dass es irgendwann einmal keine begnadeten Einzelgänger mehr geben wird, die die Kunst der Einsamkeit, Stille und Abwesenheit beherrschen, dafür ist nach der Machtergreifung des Digitalen die Gefahr genauso groß wie jederzeit zuvor.

Was es braucht, wäre eine Tugend des klugen Umgangs mit den neuen Möglichkeiten, anstelle einer kategorischen Verteufelung. Auch der Einzelgänger – gerade er – braucht die Fähigkeit des souveränen Wechsels zwischen Distanz und Nähe, Besinnung und Kommunikation und ein Wissen darüber, welche Möglichkeiten wie anzuwenden sind. Dies ginge in die Richtung einer spekulativ reflektierenden und empirisch begründenden Philosophie der Lebenskunst, für die Han in öffentlichen Äußerungen nur Spott übrig hat. Ob seine ablehnende Skepsis da allerdings eine nützlichere Haltung einnimmt, ja, ob sie wirklich ernsthaft von Nutzen sein will, sind zwei der Fragen, die sich der Leserin und dem Leser nach der Lektüre von „Im Schwarm“ stellen.

Titelbild

Byung-Chul Han: Im Schwarm. Ansichten des Digitalen.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2013.
107 Seiten, 12,80 EUR.
ISBN-13: 9783882210378

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