Wer kann, der kann

Saša Stanišics Roman „Vor dem Fest“ macht das Belanglose liebens- und lesenswert

Von Frank RiedelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Riedel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Fürstenfelde, einst Kleinstadt, heute ein Dorf in der Uckermark, stehen die Glocken still am See. Das Dorf bereitet sich traditionell auf das Annenfest vor. Geschichten und Geschichte, ja, die hat dieser Ort, den man nicht googeln kann, damals wie heute, da Fuchs und Wolf zurückkehren. Wer mit dem Auto vorbeikäme, würde sicher nicht anhalten, höchstens die argwöhnischen Blicke der wenigen Einwohner und das ländliche Idyll registrieren. „Es ist schön bei uns, aber nicht so schön wie woanders“, hört man jemanden sagen. Legenden, Märchen, Sagen und ein humorvoll genauer Blick auf den Alltag erwecken das abgeschriebene, aussterbende Fürstenfelde zum Leben. Saša Stanišić hat sich unter die Dorfbewohner gemischt und bringt sie und ihr Schicksal dem Leser näher.

Frau Kranz malt seit fast einem Jahrhundert alle(s) in Fürstenfelde. Frau Schwermuth hütet die Geschichtsbücher im Haus der Heimat. Ihr Sohn Johann plant sein erstes Mal und eine Ausbildung zum Glöckner. Der Fährmann ist tot. Herr Schramm, „ein Mann mit Haltung und Haltungsschaden“, findet „mehr Gründe gegen das Leben, als gegen das Rauchen“. Anna irrt durch Feld und Wiesen. Ulli hat in seiner Garage eine improvisierte Kneipe eingerichtet, in der Dorfbewohner wie Suzie, Lada und Imboden trinken. Der Briefträger züchtet Hühner und liest fremde Briefe. Frau Reiff hat das Töpfern zu ihrem Beruf gemacht. Man schaut den Fremden im Adidas-Anzug schräg an. Martina, 19, aus Tschechien, spielt leicht bekleidet und grottenschlecht Billard – ach nein, die sieht Schramm ja nur im Erotik-Clip auf Sport1.

Stanišić macht den Inbegriff der Belanglosigkeit zum fesselnden Thriller. Ja, das Dorf hätte einen „Tatort“ verdient: schräge Gestalten, liebenswerte Antihelden und kauzige Eigenbrötler gäbe es genug. Die umfangreichen Festvorbereitungen der Fürstenfelder werden regelmäßig durch Schilderungen historischer Ereignisse und Moritaten, die bis ins 16. Jahrhundert zurückreichen, unterbrochen. Der Leser erkennt Zusammenhänge mit der Gegenwart, die das Dorf selbst aber nicht interessieren.

Was den 1978 im bosnischen Višegrad geborenen Autor dazu brachte, sich nach seinem halbbiografischen Debütroman „Wie der Soldat das Grammofon repariert“ literarisch in die Uckermark zu begeben, ist völlig unwichtig. Wenn Maxim Biller, bezugnehmend auf die „unglaublich langweilige deutsche Gegenwartsliteratur“ in der „ZEIT“ nach lebendigen literarischen Stimmen von Migranten verlangt und proklamiert, „dass wir nicht deutschen Schriftsteller deutscher Sprache endlich anfangen sollten, die Freiheit unserer Multilingualität und Fremdperspektive zu nutzen“; wenn er desweiteren zu dem hier besprochenen Autor und Roman meint, dass hübsche, sinnlose Worte und das Anknüpfen an eine fremde stilistische Tradition für einen Schriftsteller mit Zuwanderungsgeschichte verwerflich und abzulehnen seien, dann muss man ihm entgegenhalten, dass jeder selbst entscheidet, worüber er wie schreibt. Das geniale Spiel mit Sprache ist nicht an Mutter- oder Fremdsprache, sondern an Talent und Stil gebunden. Stanišić hat seinen Stil gefunden und bleibt ihm glücklicherweise treu.

Die zumeist nur zwei bis drei Seiten langen Kurzgeschichtchen sind, jede für sich, ein sprachlicher Genuss, können aber – auch ohne den Kontext zu kennen – mitreißen, amüsieren und begeistern. Eigenständig und doch eng miteinander verwoben, bilden sie eine in sich stimmige Einheit, ein literarisches Gemälde, bei dem jedes Wort, gleich eines Pinselstriches, bewusst eingesetzt und unentbehrlich ist.

Und der Autor hat sprachlich noch viel mehr zu bieten. Ein ganzes Kapitel verfasst er als reine Negation. Die historischen Versatzstücke des Romans sind in einem historisch angepassten Deutsch geschrieben und auch inhaltlich ‚überarbeitet‘, was Stanišić beim Märchen vom Kesselflicker optisch durch handschriftliche Streichungen und umfangreiche Hinzufügungen visualisiert. Der Wir-Erzähler ist Teil der Dorfgemeinschaft, aber auch das Dorf und Ullis Garage treten als kollektive Figuren auf: „Das Dorf kocht, das Dorf sprüht Glasreiniger, das Dorf schmückt die Laternen“, „Die Garage liebt ja rhetorische Fragen“ oder „,Wollt ihr wissen, was mich gebremst hat?‘ Die Garage wollte.“

Von konkreter Poesie über Figuren, die nur in Reimen sprechen, bis zu pointierten Aufzählungen („Feldarbeit, Handarbeit, Schwarzarbeit“) und kunstvollen Zweideutigkeiten – Stanišić sprüht vor Kreativität. Jede Episode bekommt ihren eigenen Rahmen. Ein defekter Zigarettenautomat erlebt sechs Versuche, ihm Glimmstengel zu entlocken („Herr Schramm wirft die Münze oben ein, die Münze kommt unten raus“). Währenddessen erinnert sich der Nikotinsüchtige an einen usbekischen General auf einem Offizierslehrgang und beendet seine Geschichte, indem er den widerspenstigen Automaten erschießt.

„Vor dem Fest“ ist ein wunderbarer Beweis dafür, dass es keine langweiligen Themen gibt. Mit Sprachwitz, unbändigem Erzähltalent, einer großartigen Beobachtungsgabe, einer tüchtigen Portion Fantasie und dem Gespür, die richtige Mischung zu finden, hat Stanišić ein literarisches Kunstwerk geschaffen. Kein Wunder, dass ein Teil des Manuskripts bereits 2013 mit dem Alfred-Döblin-Preis und der gesamte Roman gleich nach dem Erscheinen mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde. Bleibt zu hoffen, dass es nicht wieder acht Jahre dauert, bis der nächste Roman erscheint. Und wenn doch, wird sich das Warten abermals lohnen.

Titelbild

Saša Stanišić: Vor dem Fest. Roman.
Luchterhand Literaturverlag, München 2014.
316 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783630872438

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