Ohne jede Tümelei

Saša Stanišics „Vor dem Fest“ als Heimatroman

Von Werner JungRSS-Newsfeed neuer Artikel von Werner Jung

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Langsam zwar, dafür aber doch stetig wächst das kleine Pflänzchen Heimatliteratur. Ohne jede Tümelei freilich. Dabei gab’s das in den letzten Jahrzehnten schon einmal, als nämlich im kritischen Schwanengesang auf die Literatur der und in der Bewegung von 68 weitflächig eine neue Form von Heimatliteratur entstand. Insbesondere in Österreich, etwa mit Gernot Wolfgruber oder Franz Innerhofer, und in der Schweiz mit Namen wie Silvio Blatter und Gerold Späth, aber auch in der alten BRD bei August Kühn oder Ludwig Fels melden sich Erzähler, die den Rayon des abgezirkelten Dorf- und Provinzraums bewusst ausmessen. Der poetische Mehrwert, der damals von dieser Literatur erzielt worden ist, besteht in der mal nüchtern-realistisch bilanzierenden Geste, dann auch wieder im ironisch-humoristischen Tonfall, die beide den Alltagsirrsinn und die Provinztristesse aufspüren. Und heute?

Was charakterisiert so unterschiedliche Autoren und Temperamente wie Peter Kurzeck, Andreas Maier und Norbert Scheuer, nicht zu vergessen Lyriker wie Norbert Hummelt oder Johannes Kühn? Gewiss in erste Linie der explizite Bezug auf die und die Verwurzeltheit mit der Region und oftmals dabei auch ihrer Herkunft – egal ob dies das Rheinland, Nordhessen oder das Saarland ist. Oder eben auch – wie im Fall von Saša Stanišić – die Uckermark, wiewohl er freilich nicht dort geboren ist. Denn hier, im Dörfchen Fürstenfelde irgendwo an der Bahnlinie nach Prenzlau, spielt der neue Roman. Und zwar dieser Tage. Da, um im Bild zu bleiben, das nicht nur einige wenige Dörfler, sondern auch noch Tiere wie eine Fähe oder einen Dachs mitumfasst, wo sich halt Fuchs und Hase „Gute Nacht“ wünschen. Es ist die Nacht vor jenem Fest, an dem in der Vorzeit einmal Hexen verbrannt wurden, einem gemeinen Dorffest, an dem zwar auch wieder nichts Besonderes passiert, aber immerhin doch die gewohnte Routine einmal unterbrochen wird. Klingt nun alles andere als ergiebig für einen Roman. Also doch nur eine (vielleicht unfreiwillige) Fortsetzung der älteren, damals Entfremdungsphänomene und Subjektdeformationen beschreibenden Erzählliteratur? Es könnte den Anschein haben, wenn man solche Stellen liest: „Fürstenfelde. Einwohnerzahl: ungerade. Unsere Jahreszeiten: Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Der Sommer hat die Nase klar vorn. Unser Sommer fällt kaum schlechter aus als am Mittelmeer. Statt Mittelmeer haben wir die Seen. Der Frühling ist nichts für Allergiker und nichts für Frau Schwermuth vom Haus der Heimat, die wird im Frühling depressiv.“

Doch der Schein trügt. Denn tatsächlich entfaltet Stanišićs Roman auf engstem Raum ein ebenso weites wie dichtes Panorama, das hinter der Momentaufnahme eines (sterbenden?) Dorfes Geschichten und Mythen, Märchen und Legenden zur Sprache kommen lässt. Eindrucksvoll unterstreicht die kollektive Erzählerstimme, das Wir der Dorfbevölkerung – von Frau Kranz, der Dorfchronistin und Malerin, über Herrn Schramm, einen früheren Oberst der NVA, bis zu den jungen gelangweilten Neonazis – jene Ansicht, wonach es sich bei Geschichte immer auch um das „Geschichtete“ (Hermann Lenz) handelt. Mit anderen Worten, dass Literatur Palimpsest-Charakter trägt, weil sie in Glücksfällen, wozu Stanišićs Roman zweifelsohne zählt, diese verschiedenen Schichten zu durchdringen und damit ansichtig zu machen versteht.

Es ist eben längst nicht so, wie es aussieht: „Fürstenfeld, Uckermark, Einwohnerzahl: unverändert. – Auch Einbrüche hat es gegeben, einen oder zwei, sicher sind wir uns da nicht, gestohlen wurde ja nichts. Alles gut, sofern es darum geht, zu behalten, was uns gehört. Was im Haus der Heimat vorgefallen ist? Glas bricht, und Strom fällt nun mal aus, und seit Eddie tot ist, kann man einiges mehr auf seine Kappe nehmen. Die Polizei jedenfalls ruft unsereiner ungern an, um zu berichten, dass es im Grunde nichts zu berichten gibt.“

Ja, und was ist nun des Berichtens wert? – Dafür muss man Stanišićs Roman lesen. Vielleicht mehrfach.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Saša Stanišić: Vor dem Fest. Roman.
Luchterhand Literaturverlag, München 2014.
316 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783630872438

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