Die Zerstörung des Ordnungssystems

Peter Greenaways Appropriation von Shakespeares „The Tempest“

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

I.

In Peter Greenaways Welt herrscht Ordnung. Eine systematische Ordnung, anhand derer die Welt nach Zahlen aufgeteilt werden kann; eine Kadrierung des Bildes, eine segmentierte Realität. Ordnung ist das oberste Prinzip der Kunst Greenaways, die keineswegs auf Spielfilme beschränkt ist, sondern die Malerei, die Videoinstallation, die Literatur, die Musik miteinschließt. Eine seiner Ausstellungen trug den Titel „100 Objects to represent the World“, und tatsächlich führte er dem Betrachter 100 nur lose miteinander verknüpfte Dinge vor, welche seiner Ansicht nach genügen, um die Welt zu erklären. Eine abstrahierte Form der Ausstellung trug den Titel „100 Allegories to represent the World“, funktionierte aber nach einem ähnlichen Schema, nur dass anstatt konkreter Objekte nun Allegorien genannt wurden. Im Bereich des Spielfilms führen vor allem die frühen Experimentalfilme Greenaways in seine regelrechte Besessenheit von Ordnungssystemen ein: „The Falls“ dauert 180 Minuten und zählt aus einem fiktiven Telefonbuch mehrere dutzend Menschen auf, deren Nachname mit den Buchstaben FALL beginnt und die allesamt an einer seltsamen, nicht näher spezifizierten Geflügelseuche erkrankt sind. „A Walk Through H“ führt den Zuschauer durch dutzende Zeichnungen, die vom Erzähler aus dem Off jedoch als Landkarten bezeichnet werden, die ein Wanderer durchlaufen muss, um ans Ende von „H“ zu kommen, was auch immer das bedeutet. Dass Greenaways Experimentalfilme stets nach einem Ordnungsprinzip funktionieren, erleichtert bei aller Abstraktion gleichsam ihre Rezeption, da der Zuschauer stets weiß, an welchem Ort, welcher Stelle des Films er sich gerade befindet und wie viel Stationen er noch durchlaufen muss, um sein Ziel zu erreichen.

Auch in seinen kommerzielleren Spielfilmen behält Greenaway dieses Ordnungsprinzip meist bei, variiert es jedoch so, dass es der jeweiligen Thematik angemessen ist. So steht es mal mehr (wie in „Drowning by Numbers“), mal weniger (wie in seinem wohl berühmtesten Film „The Draughtman’s Contract“) im Mittelpunkt. In „The Draughtman’s Contract“ wird die Geschichte eines Zeichners erzählt, der ein Anwesen künstlerisch abbilden soll. Tatsächlich fertigt er im Laufe der Handlung 12 Zeichnungen an, die den Film ihrerseits segmentieren (dass es am Ende nur 11 Bilder sind statt der kolportierten 12, ist ein weiterer narrativer Clou, auf den hier nicht eingegangen werden soll). Der durchschnittliche Betrachter kann den Film dennoch als viktorianisches Rachedrama ansehen, bei dem am Ende der Zeichner hingerichtet wird. Dass die Segmentierung der Handlung durch die Produktion der einzelnen Zeichnungen einen tieferen Sinn als eine reine Kapiteleinteilung verfolgt, wird erst bei näherem Hinsehen bewusst, denn mit jeder Zeichnung beginnt der Künstler ein Stück mehr hinter die Fassade der viktorianischen Gesellschaft zu blicken, und jedes Segment ist wiederum – nicht nur in den Bildern, die fahriger und nervöser werden – ein weiterer, chronologischer Schritt hin zum endgültigen physischen Ende des Eindringlings. Im Grunde kann bereits „The Draughtman’s Contract“ als Studie zu Shakespeare interpretiert werden, auch wenn Greenaway nichts Explizites in dieser Richtung gesagt hat.

Offensichtlicher wurde Greenaways Gebrauch von systematisierenden Zahlen in seinem um einiges abstrakteren Film „Drowning by Numbers“ (der im Deutschen den irreführenden Titel „Die Verschwörung der Frauen“ trägt, der zwar durchaus die Handlung wiedergibt, diese aber von der eigentlich signifikanten Ebene der Numerologie abhebt und sich auf das nackte, bewusst banale Handlungskonstrukt besinnt). Hier geht es darum, dass drei Frauen – Großmutter, Mutter und Tochter – jeweils ihre Männer ertränken, aber dieser nur grobe Handlungsrahmen ist weniger von Bedeutung als die Art und Weise, wie dies erzählt wird: Greenaway „zählt“ den Film quasi durch. Er versteckt entlang der Handlung die Zahlen 1-100 in aufzählender Reihenfolge. Eine dieser Oberstruktur untergeordnete Struktur teilt den Film wiederum in eine Reihe abstruser, grausamer Spiele ein (die meisten von Greenaway für den Film erfunden), die von den Frauen gespielt werden.

II.

Dass ein so tief im britischen kulturellen Erbe verwurzelter Regisseur wie Peter Greenaway, der zudem ein Faible für das viktorianische Zeitalter nicht verbergen kann, sich irgendwann intensiv mit William Shakespeare auseinandersetzen würde, ist ebenso naheliegend wie die Befürchtung, er würde auch für diesen ein numerisches System finden, das jenseits einer schnöden Einteilung in Akte und Szenen das auserwählte Werk segmentiert. Und tatsächlich, Greenaways Verfilmung von „The Tempest“ trägt den Titel „Prospero’s Books“, und es sind genau jene Bücher, die das System dieser Erzählung bedingen.

24 Bücher besitzt Prospero auf seiner Insel, und diese 24 Bücher strukturieren den Film. Auf einer ersten Ebene hat Greenaway den Shakespeare’schen Text fast wortgenau übernommen, doch er stellt die Bücher, die das gesammelte Wissen Prosperos versammeln und daher auch seine Macht bedingen, in den Mittelpunkt; weniger, indem er sie in die Handlung integriert, als vielmehr, indem er sie als Ordnungselemente verwendet, die den Film, wie nahezu jeden Film Greenaways, in kurze Segmente unterteilt.

Prosperos Bücher handeln von Wasser, Feuer, Spiegeln, Mythologie, Farben, Liebe, von konkreteren Dingen wie Orpheus, dem Minotaurus oder Parsiphae. Tatsächlich ähnelt die Einteilung der Welt in (wie Greenaway es nennen würde) ‚Allegorien‘ seinem künstlerischen Werk in „100 Allegories to represent the World“. Die Bücher bedingen, wie gesehen, Prosperos Macht, doch macht die Variation des Shakespeare’schen Stoffes bei diesem Ordnungssystem nicht halt, sondern fügt ihm noch eine entscheidende Metaebene hinzu. Das vorletzte, das 23. Buch nämlich, das Prospero in seiner Bibliothek stehen hat, ist eine 1623 veröffentlichte Sammlung von Shakespeares Theaterstücken, im Folio von 1623. 19 Seiten sind freigelassen, und hier soll das Stück „The Tempest“ niedergeschrieben werden, was Prospero, den wir mehrmals in seiner Schreibstube beobachten können, auch tut. So ist das letzte Buch in seiner Bibliothek, das 24., schließlich „The Tempest“, fertiggestellt, bevor Prospero seinen Machtverlust manifest werden lässt und alle Bücher mit Hilfe von Feuer oder Wasser zerstört.

Prospero ist der allmächtige Schöpfer; er ist Autor und Figur gleichzeitig (die Initialien auf dem letzten Buch lauten W.S.), er schreibt seine Geschichte, die eine Geschichte der Rache ist, doch hat er die Figuren selbst ersonnen. Dies macht Greenaway deutlich, wenn er seinen Schauspieler, den Shakespeare-Veteranen John Gielgund, zunächst alle Rollen selbst sprechen lässt. Erst im Laufe von Prosperos freiwilligem Machtverlust und der damit zusammenhängenden Zerstörung seiner Identität via Zerstörung seiner Bücher emanzipieren sich seine Figuren und beginnen, mit eigener Stimme zu sprechen.

III.

Einerseits könnte man nun behaupten, Greenaway habe dem Shakespeare-Stück seine Ästhetik – hier seien auch die filmästhetischen Mittel erwähnt, vor allem die Verwendung des seinerzeit revolutionären Paintbox-Verfahrens, das nicht zuletzt frame-in-frame-Aufnahmen zur Folge hat – und seinen Hang zum Ordnungssystem aufgezwungen, immerhin erwähnt der Dramatiker an keiner Stelle die Anzahl der Bücher, die Prospero auf der Insel beherbergt, noch wird seine Rolle als Schöpfer, von einem abschließenden Monolog einmal abgesehen, allzu sehr herausgekehrt. Andererseits aber lässt sich Greenaway, der die Literaturverfilmung eigentlich ablehnt, auf einen entscheidenden Kompromiss ein: Der Machtverlust Prosperos ist ein freiwilliger; er hat seine Ziele erreicht und sieht den Zeitpunkt gekommen, die Kontrolle abzugeben. Dieser Punkt ist im Kontext der hier niedergeschriebenen Überlegungen deshalb von so großer Relevanz, weil der Zweck der Greenaway’schen Ordnungssysteme keineswegs das Unterstreichen eines pedantischen Weltbildes ist. Sie dienen durchweg auch dem Ziel, den menschlichen Kontrollverlust anhand der Auflösung dieser Ordnungssysteme zu zeigen. Denn für Greenaway ist das fast manische Festhalten an einer Ordnung gleichsam ein Kuriosum der menschlichen Natur, die damit versucht, sich vor Tod und Verfall zu schützen. Der Einzug des Chaos, welcher der Zerstörung der Ordnungssysteme folgt, ist für die Akteure in Greenaways Filmen der größtmögliche Unfall, gleichsam spürt man die Macht des Chaos innerhalb der strengen Ordnungssysteme immer wieder durchscheinen.

Nicht so Prospero, der sein Ordnungssystem selbst zerstört, als er sein Werk vollendet hat. Die Niederschrift von „The Tempest“ schließt sein Lebenswerk ab, Prospero hat sein gesammeltes Wissen in ein Buch gepackt, dessen vorläufige Absenz das Ordnungssystem (ohne das Wissen des Zuschauers, der 24 vollständige Bücher erwartet hat) von vorneherein bedroht hat. Der Abschluss des Systems, die vollendete Niederschrift von „The Tempest“ verleitet Prospero nun zur freiwilligen Zerstörung seines eigens etablierten Ordnungssystems. Anders als die anderen Greenaway-Figuren findet er jedoch beim Aufgehen im Chaos seinen Frieden.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz