Heimkehr

Toni Morrison, die streitbare Chronistin des schwarzen Amerika, gibt ihren Helden ein Zuhause

Von Simone FrielingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simone Frieling

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Immer war Toni Morrison auf der Suche nach einer Existenz, die keiner Diskriminierung durch Rassismus ausgesetzt ist. Diese Utopie verfolgt sie bis heute und misst an ihr die tatsächlichen Verhältnisse der Gesellschaft. Alle ihre Werke, auch ihr kürzlich erschienener Roman „Heimkehr“, setzen sich mit diesem Thema auseinander. Toni Morrison, die als erste Afroamerikanerin 1993 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet worden ist, zwingt die USA zu einer Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit, von der sie meint, dass diese sogar unter einem schwarzen Präsidenten vermieden wird.

Der Festlegung auf ein rassisches Merkmal zu entkommen, war und ist Toni Morrisons Hauptanliegen in all ihren schriftstellerischen Bemühungen. Klärung wünscht sie für die eigene Person, aber noch viel mehr für ihre Ethnie. Oft geht sie wie eine Chemikerin vor, die die Versuchsanordnung der Welt verändert, um zu schauen, was passiert, wenn sie auf Bezeichnungen wie ‚Schwarz‘ und ‚Weiß‘ verzichtet und nichts an ihre Stelle setzt. „Wenn ich die Rasse eines Menschen kenne, kann ich zwar ein paar grundsätzliche Aussagen über ihn treffen, aber was weiß ich denn wirklich über denjenigen“, gab sie in einem Interview zu bedenken. „Es gibt doch tausende von Faktoren, die eine größere Rolle spielen. Im Grunde sagt die Rasse eines Menschen nichts über ihn aus.“ Dieser These zum Trotz gibt es kein Werk von Morrison, das sich nicht mit ‚race‘, ‚racial‘ und ‚race-free‘ auseinandersetzt.

Dabei sind die ins Deutsche übersetzten Begriffe wie ‚race‘: ‚Rasse‘, ‚racial‘: ‚rassisch‘ und ‚race-free‘: ‚rassenlos‘ irreführend. Im deutschsprachigen Raum haben diese Begriffe eine andere Bedeutung: nämlich eine vorrangig biologische. Während für Morrison ‚race‘ erst einmal eine bedeutungsoffene Bezeichnung ist, die willkürlich mit ganz unterschiedlichen Merkmalen besetzt wird, aus denen dann eine soziale Konstruktion folgt. Die Utopie einer rassenlosen Gesellschaft meint eben nicht, in ihr gäbe es keine biologisch ‚rassischen‘ Merkmale und Unterschiede. In der literaturtheoretischen Essaysammlung „Im Dunkeln spielen. Weiße Kultur und literarische Imagination“ (1992) setzt sich Morrison mit den vielfältigen Spielarten des Rassismus in der ‚weißen‘ Literatur auseinander. So augenfällig wie in der nationalsozialistischen Literatur die Figur des Juden alles Abstoßende und Schlechte in sich vereinigt, so deutlich ist für Toni Morrison zu sehen, dass sogar noch unter aufgeklärten amerikanischen Autoren wie William Faulkner, Ernest Hemingway, Gertrude Stein etc. die lange Tradition weitergeführt wurde, die Figur des Schwarzen aller Individualität zu berauben, um ein negatives Stereotyp zu schaffen, das dazu dienen soll, den weißen Amerikaner als moralisch integer, selbstbestimmt und begehrenswert erscheinen zu lassen.

Dem will Morrison durch ihr Schreiben entgegenwirken: Ihre Literatur soll die schwarze Lebenswirklichkeit beschreiben ohne nach dem Einverständnis des weißen Lesers zu heischen. Die Autorin betont immer wieder, dass sie sich dem weißen Publikum weder verständlich machen, noch sich für irgendetwas vor ihm rechtfertigen wolle.

Die Motivation für das vielfältige Werk Toni Morrisons ist die Rückbesinnung. Erst nach schmerzhaftem Erinnern, erst nach Öffnen der Wunden, so glaubt die Autorin, kann es zu einer Heilung bei den Afroamerikanern kommen. Das ist ein fast psychoanalytischer Gedanke, der einen Gegensatz zu Morrisons Vorgehensweise beim Schreiben bildet, die alles andere als analytisch ist.

Als großer Leserin war Morrison immer wieder aufgefallen, dass schwarze Autorinnen, im Gegensatz zu ihren männlichen Kollegen, trotz Bedrängnis und Unterdrückung in ihren Werken ein Grundgefühl der Lebensfreude zu vermitteln wissen. Ähnliches hatte sie in ihrer Familie erlebt: den hassenden Vater, der der Leidensgeschichte seines Volkes nur seine Arbeitskraft entgegen zu setzen im Stande war. Während ihre Mutter und deren Mutter versuchten, zu einem neuen Lebensverständnis als Schwarze zu gelangen, in dem sie ihre individuelle und die kollektive Geschichte zusammenbanden. Sie waren neuen Werten − auch weißen Werten − gegenüber aufgeschlossen und besannen sich gleichzeitig auf die Stärke ihrer Wurzeln. Sie schafften den Prozess vom Überleben zum Leben. Diese Entdeckung führte Morrisons dazu, sich auf die schwarze Frau und Mutter zu konzentrieren, die die Fähigkeit besitzt, die eigene Kultur zu bewahren und an die nächste Generation weiterzugeben. Authentizität schreibt sie in ihren Romanen oft jenen Frauen zu, die weder lesen noch schreiben können, durch diese Unfähigkeit der Erwartungshaltung des weißen Amerikas nicht Folge leisten und so ihre folk culture und folk wisdom bewahren können.

In fast jedem Roman von Toni Morrison finden sich Frauen, in denen die Geschichte Schwarz-Afrikas noch lebendig ist. Diese Frauen sind dem Leben zugetan, geschickt darin, zu heilen, zu kochen, Kleidung zu nähen, Gärten anzulegen, die Familie zu ernähren und zusammenzuhalten, böse Geister abzuwehren, die Gruppe zu stärken, zu singen, zu erzählen. Es scheint, als seien sie noch verbunden mit dem Strom uralter Geschichten ihres Volkes. Weder Verschleppung noch Versklavung konnten sie trennen. Während die anderen Figuren ihrer Romane, meist männliche, von ihm abgeschnitten sind und auf der Suche nach der eigenen Stimme scheitern.

In ihrem Roman „Heimkehr“ („Home“) versammelt die 83-jährige Autorin wie in einem Kabinett alle Grausamkeiten, zu denen Menschen fähig sind. Schwarze verüben sie an Schwarzen, Weiße an Schwarzen, Erwachsene an Kindern, Ärzte an Patienten. Und manchmal bleibt es dem Leser überlassen, die Täter einer Ethnie zuzuordnen. Die beiden Protagonisten, ein schwarzes Geschwisterpaar, durchleiden alle Stufen der Barbarei: Enteignung, Vertreibung, Flucht, Krieg und Misshandlung.

Der junge Mann, Frank Money, gerade aus Korea ‚heimgekehrt‘, kann weder in seinem alten Leben fußfassen noch die neue Beziehung zu einer Frau halten. Schwer traumatisiert, von psychotischen Zuständen gequält, sucht er sich mit Alkohol zu betäuben. Eines Tages findet er sich auf der geschlossenen Station einer psychiatrischen Anstalt wieder, von der er nicht weiß, wie er in sie geraten ist. Nach seiner Flucht aus der Psychiatrie sucht er Schutz bei Reverend John Locke. Der ist sofort bereit, Frank für seinen weiteren Weg Geld, Kleidung und Adressen zu geben, da er Kenntnis hat von Leichenhandel, der in der Klinik betrieben wird. „Du hast Glück, Bruder Money. Dort unten werden eine Menge Leichen verkauft“, erklärt er wie nebenbei dem erstaunten Frank. „Ärzte müssen an toten Habenichtsen üben, damit sie die lebenden Reichen heilen können.“

Die junge Frau, seine Schwester Cee, ist kurz nach der Heirat von ihrem Mann verlassen worden, der es nur auf ihr Auto abgesehen hatte. Nun bringt sie sich mit Gelegenheitsjobs wie dem in einer Spülküche durch. Die Aussicht, bei einem Arzt als Praxishelferin arbeiten zu können, bedeutet für Cee den ersehnten Aufstieg, der Unabhängigkeit verspricht. Der Arzt aber bringt sie fast zu Tode, indem er unter Narkose an ihren Geschlechtsorganen ungenannte Experimente vornimmt. Frank, durch die Haushälterin des Arztes alarmiert, kommt Cee zu Hilfe und bringt die Verblutende zurück in das perspektivlose Hundert-Seelen-Dorf Lotus in Georgia, aus dem sie vor Jahren geflohen waren.

An dem verhassten Ort der Kindheit findet Frank Hilfe für seine Schwester. Cee gesundet unter den Händen einer Gruppe von schwarzen Frauen, die alles können, außer lesen und schreiben. „Umso vollkommener waren bei den Schriftunkundigen die Fähigkeiten ausgebildet: ein unfehlbares Gedächtnis, fotografisches Erinnerungsvermögen, geschärfte Sinne des Geruchs und Gehörs.“ Diesen Frauen, die nicht abgeschnitten sind von dem Strom der uralten Weisheit Afrikas, vermögen Cee das Leben wiederzugeben. Allerdings halten sie Frank strikt vom Krankenbett seiner Schwester fern. „Wäre dieses Mädchen Jackie nicht gewesen, hätte er überhaupt nichts erfahren. Sie verriet ihm, dass die Frauen glaubten, seine Anwesenheit würde der Kranken schaden, weil er ein Mann war.“

Auch Frank Money gesundet, nachdem er Cee gerettet und nach Lotus zurückgebracht hat. Die Verantwortung, die er für seine Schwester übernommen hat, kann er jetzt auch für sich selbst tragen. Nun ist er bereit, sich seines Verbrechens, das er in Korea an einem kleinen Mädchen verübt hat, zu erinnern und sich der schrecklichen Szene zu stellen. Zum guten Schluss klärt er den Tod eines unbekannten Schwarzen auf, der in der Kindheit vor ihrer beider Augen verscharrt worden war, und beerdigt seine Überreste zusammen mit Cee. Damit ist auch diese Geschichte für Frank begraben, die ihn während seiner ganzen Kindheit gequält hatte.

Die Frauen von Lotus haben den Weg für Cee und Frank geebnet, den Heimkehrern Heimat gegeben: eine schwarze Identität. Leider überzeichnet Toni Morrison die Verhältnisse in diesem Roman, die Anhäufung der Grausamkeiten schwächt die Geschichte, die erzählt wird. Die Szene der Heilung gerät Morrison zu einer süßlichen Idylle, ebenso ihre Darstellung der Frauengemeinschaft. Das Unheilvolle nimmt in der Erzählung den größten Raum ein, das glückliche Ende wirkt dagegen künstlich und kraftlos.

Vielleicht schlägt sich in diesem kurzen Roman privates Unglück nieder: das Sterben ihres Sohnes Slade 2010, dem Morrison „Heimkehr“ gewidmet hat. Sie war mit ihrem jüngeren Sohn nicht nur als Mutter verbunden, sondern auch durch gemeinsame Arbeit: Fünf Kinderbücher brachten Slade und Toni Morrison zusammen heraus.

Bis heute ist Toni Morrison eine streitbare Person, die gefragt ist, sich einmischt, in Interviews manchmal gefährlich unüberlegte Äußerungen von sich gibt – wie 2009, als sie nach dem Rassismus in den USA unter einem schwarzen Präsidenten gefragt wurde und antwortete: „Wenn zum ersten Mal ein Polizist einfach so auf einen weißen Teenager schießt, dann werde ich wissen, etwas hat sich wirklich verändert.“

Noch hat die Nobelpreisträgerin nicht das letzte Wort gesprochen, nicht den Bleistift aus der Hand gelegt, mit dem sie immer die erste Fassung ihrer Romane auf einem Block entwirft. Sie lässt verlautbaren, dass sie an einem neuen, großen Thema arbeitet. Ohne diese Arbeit lässt sich für sie das Leben schwer ertragen. Ich kann die Welt aushalten, wenn ich an einem Buch sitze – sonst kaum. Schreiben ist Freiheit – das einzige, was ich ausschließlich für mich tue. Es ist ganz mein.“

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Toni Morrison: Heimkehr. Roman.
Übersetzt von Thomas Piltz.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2014.
154 Seiten, 18,95 EUR.
ISBN-13: 9783498045258

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