Unergründliches Masuren

Erholung am See – mit Artur Becker

Von Klaus HübnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hübner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer Artur Beckers etwas schräge masurische Romanwelt kennt und von „Kino Muza“ oder „Wodka und Messer“ ähnlich begeistert war wie von seinem Meisterwerk „Der Lippenstift meiner Mutter“, kommt einmal mehr voll auf seine Kosten. Denn der 1968 in Bartoszyce unweit der Grenze zur russischen Oblast Kaliningrad geborene Schriftsteller, der seit 1985 in Deutschland lebt und arbeitet, beutet auch in seinem jüngsten, im Titel den bekannten Psalm „Vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang“ (113,3) zitierenden Roman seine polnische Jugend- und Familiengeschichte aus. Man wird erneut konfrontiert mit der überwältigenden, aber auch abgründigen Schönheit masurischer Seen, Wälder und Kleinstädte, und man trifft einige alte Bekannte wieder – niemals eindeutige oder fertige Charaktere, sondern in sich widersprüchliche, sehnsüchtige und suchende und genau deshalb interessante Figuren. Vor allem aber darf man sich einmal mehr dem vielgerühmten ‚Becker-Sound‘ ausliefern, der rhythmisch und kraftvoll wie eh und je durch das turbulente Romangeschehen hallt und der der unwiderstehlichen Sprachmelodie gehorcht, die seit je charakteristisch für die Werke dieses Autors ist.

Der Auftakt ist spektakulär: Karol Duszka, der zu kommunistischen Zeiten mächtige Textilfabrikdirektor aus Bartoszyce, ist am Allerseelentag des Jahres 2010 kurz vor einem Familientreffen in Verden an der Aller die Kellertreppe hinuntergestürzt. Seine längst in England lebende Tochter Mariola und sein nach Norddeutschland emigrierter Neffe Arek, die seit Kindertagen eine ganz besondere, erotisch aufgeladene Beziehung zueinander pflegen, halten die Totenwache. Die Novembernacht „in Areks angenähtem Land der Findlinge, Sachsen und Nordseeinseln, in der Heimat der Stinte und der evangelischen Friedhöfe, im Orkanauge der deutschen Sprache“, löst in ihnen eine umfassende Rückschau auf ihr Leben in der katholisch-chaotischen Volksrepublik Polen aus, ganz besonders auf ihre Jugendzeit in den 1980er-Jahren. Das Erholungszentrum  „Kleine Maräne“ am Lutrysee ist der entscheidende Schauplatz, auf dem Areks und Mariolas Freunde, die gesamte Verwandtschaft und ein herrlich versoffenes, vitales Ensemble skurriler Endzeit-Typen ihre Auftritte haben. Menschliches und Allzumenschliches, wie immer bei Artur Becker unterlegt mit spätkommunistisch-mitteleuropäischer Zeitgeschichte und metaphysischen Spekulationen. Und am Ende steht ein fantastisch-utopischer Ausblick auf die Arek bevorstehenden nächsten drei Jahrzehnte.

Ein mit vielen Überraschungen und ungeahnten Wendungen voranschreitender, spannender und unterhaltsamer Roman ist dem Autor hier gelungen, auch wenn man – anders als in den vorausgegangenen Werken – immer mal wieder auf sprachliche Holperigkeiten stößt, die ein beherztes Lektorat hätte verhindern können. Das aber ändert nichts daran, dass Artur Becker ein großer, literarisch versierter Erzähler masurischen Lebens ist – und als solcher ein einmaliger Schriftsteller.

Titelbild

Artur Becker: Vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang. Roman.
Weissbooks, Frankfurt a. M. 2013.
441 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783940888068

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