Halluzination eines philosophischen Rätsels

Peter Trawny und das deutsche Feuilleton wundern sich über Martin Heideggers Antisemitismus

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die geheimnisvolle Zensur

Thomas Assheuer, Feuilleton-Redakteur der „Zeit“, fasste sich an den Kopf: „Wie konnte es geschehen, dass sich ein deutscher Philosoph – nach Lessing und Kant, nach Heine und Hegel – bei vollem Bewusstsein in die globale Vernichtung hineinfantasierte und die Auslöschung der vom undeutschen Geist verdorbenen Welt zum Letztbeweis für die ‚Größe des Seyns‘ veredelte?“ Die Antwort war so schwer nicht zu finden, wie zumindest Jürgen Kaube in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ fand: „War Martin Heidegger ein Nationalsozialist? Die Antwortet lautet schon lange: ja. […] War Martin Heidegger Antisemit? Die Antwort lautet spätestens von heute an: ja.“

Was war passiert? Wie kam es, dass man selbst in der „F.A.Z“ dermaßen deutliche ideologiekritische Bemerkungen zu lesen bekam? Grund war die Publikation von Martin Heideggers „Schwarzen Heften“, über die bereits im letzten Jahr debattiert worden war. Nun aber lagen sie endgültig vor, und das Feuilleton kam nicht umhin, sich den Fakten zu stellen. Damit traten aber auch die notorischen Abwiegler auf den Plan: „Natürlich können die jetzt bekannt gewordenen Aussagen Heideggers über das Judentum und ‚die Juden‘ aus heutiger Sicht schockierend erscheinen. Er selbst aber konnte sie in seiner Zeit nicht als monströs empfinden. Wenn ich heute etwas über ‚die Juden‘ sage, etwas über ihren Humor oder ihre Spiritualität – laufe ich dann nicht groteskerweise sofort Gefahr, als Antisemit zu gelten?“

Mit dieser mehrspurigen verbalen Entgleisung, bei deren Entgegnung man gar nicht mehr weiß, womit man anfangen soll, leitete der französische Philosoph und Heidegger-Übersetzer François Fédier ein Interview in der Wochenzeitung „Die Zeit“ ein, das dort am 18. Januar 2014 veröffentlicht wurde. Mit Fédiers Wortmeldung bekam die Debatte um Heideggers posthum erschienene Notizhefte, die der weltberühmte schwäbische Philosoph nachweislich selbst als eine Art Vermächtnis zur Veröffentlichung nach seinem Tod bestimmt hatte und die zugleich vor lauter antisemitischen Klischees nur so strotzen, schrille Töne. Was in den kommenden Wochen folgte, war eine mehr oder weniger burleske Kontroverse über denjenigen ‚Denker‘, den viele akademische Knallköpfe immer noch für den ‚bedeutensten deutschen Philosophen des 20. Jahrhunderts‘ halten.

Als ein solcher Heidegger-Apologet par excellence wollte Fédier selbst jetzt immer noch nicht wahrhaben, das Heideggers gesamte Philosophie auch für den letzten Betonkopf endgültig zur Disposition gestellt worden war, und zwar einmal mehr von seinem Idol selbst, einem Strategen des Schweigens, der sich diesen finalen Knüller offenbar händereibend für eine Zeit weit nach seinem Tod vorbehalten hatte. Die „Schwarzen Hefte“, die nicht etwa als marginale Sudelbücher daherkommen, sondern als wohlüberlegte und penibel ausformulierte Textinszenierungen zu betrachten sind, mit denen sich Heidegger als einsamer Künder und Prophet in Szene setzen wollte, sollten offenbar so etwas wie seinen letzten Triumph im Grab markieren, geplant bereits seit den frühen 1930er-Jahren und weitergeführt bis weit in die Nachkriegszeit. Er habe die „Katze noch gar nicht aus dem Sack gelassen“, soll Heidegger Freunden begeistert mitgeteilt haben, bemerkt Assheuer in der „Zeit“, um lakonisch hinzuzufügen: „Wenn es sich so verhält, dann ist Heideggers Katze jetzt aus dem Sack.“

Pseudo-ontologische Ausflüchte in eine nebulöse, verharmlosende bis widersinnige Exegese der raunenden Formulierungen Heideggers, wie man sie bis dato beliebig auf die Spitze treiben zu können meinte, konnten nun aufgrund der expliziten Klarstellungen in den „Schwarzen Heften“ auf einen Schlag endgültig nicht mehr fruchten. Fédier aber wehrte sich in dem zitierten Interview nach wie vor mit Händen und Füßen gegen Peter Trawnys zu diesem Datum nur angekündigtes Buch „Heidegger und der Mythos der jüdischen Weltverschwörung“. Mittlerweile ist es erschienen. Darin kommt der namhafte Heidegger-Herausgeber Trawny nicht mehr umhin, einzuräumen, dass sich Heideggers Antisemitismus und dessen fataler Einfluss auf das komplette Denken des insbesondere in Frankreich gerühmten Philosophen und Eigentlichkeits-Nationalsozialisten nun endgültig nicht mehr philologisch leugnen ließe. Doch Fédier tat genau dies weiter, und zwar mit der zitierten kühnen Behauptung, in Deutschland existiere eine geheimnisvolle Zensur, die sogar prominente Leute wie Trawny zwinge, bis bin zur totalen Selbstverleugnung mit allen Mitteln zu verhindern, als Judenfeinde zu gelten, indem sie einen deutsche Philosophen, dessen Werk sie erforschen und edieren, vorsorglich an den Pranger stellen: „Mir scheint dabei, dass der Herausgeber Heideggers in Deutschland heute solche Angst hat, […] selbst als Antisemit zu erscheinen, dass er sich genötigt fühlt, bei jeder Erwähnung des Wortes Judentum den Antisemitismus-Vorwurf vorsorglich gleich selbst zu erheben.“

Was soll man dazu noch schreiben? Offenbar muss es Philosophen wie Fédier immer wieder aufs Neue erklärt werden, ehe sie sich weiter um Kopf und Kragen reden: Die Behauptung, es gebe ein Tabu, die kleinste Kritik am Judentum nicht sofort als Antisemitismus zu brandmarken, wolle man nicht selbst als Judenhasser denunziert werden, ist längst zu einer Mainstream-Floskel avanciert, die aus dem ‚sekundären‘ Antisemitismus stammt und in Deutschland, wo diese ominöse Zensur angeblich wirksam sein soll, in den letzten Jahren besonders gerne von Populisten wie Martin Walser (in seiner Paulskirchenrede über die sogenannte Auschwitzkeule) oder auch Günter Grass (in seinem Gedicht „Was gesagt werden muss“) bemüht wurde.

Selbstgewisse Heidegger-Rettungsversuche wie die Fédiers in der „Zeit“, dem Lieblingsblatt deutscher Deutsch- und Philosophielehrer, die fest daran glauben, sie wiesen sich durch die Lektüre solcher Interviews als linksliberale Elite aus, passen in diesem Sinn auf unfreiwillige Weise gut zum tumben Antisemitismus, der sich nunmehr in Heideggers „Schwarzen Heften“ aufs Neue offenbart: Was man in Heideggers Vermächtnis nachlesen kann, welches Trawny als Dokument eines „philosophischen Dramas“ bezeichnet, das in der Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts einzigartig sei, zeichnet sich tatsächlich durch nichts weiter als eine Umformulierung plattester Stereotype aus den „Protokollen der Weisen von Zion“ mittels ‚seinsgeschichtlicher‘ Überhöhungen aus. So könnte man Trawnys zentrale These in seinem erwähnten Buch paraphrasieren. Allerdings trägt Trawny seine Beobachtungen mit merklichem Zähneknirschen und in teils auffällig verkniffener Diktion vor. Auch ihm fällt es alles andere als leicht, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen. Hier und da könne er auch irren, windet er sich eingangs: „Kommende Diskussionen mögen meine Deutungen widerlegen oder korrigieren. Ich wäre der Erste, der sich darüber freute.“

Dass Fédier, der Heideggers anmaßenden „Jargon der Eigentlichkeit“ (Theodor W. Adorno) nach wie vor ernstzunehmen können glaubt und Trawny für seine vorsichtigen Interpretationen massiv angriff, die oben geäußerte Kritik an seiner Behauptung einer deutschen Diktatur der übertriebenen ‚political correctness‘ gegenüber dem Judentum abermals als Bestätigung seiner haltlosen Vermutung werten dürfte, ist Teil eines derzeit immer weiter um sich greifenden Problems und macht es so schwer, Leute, die so argumentieren wie Fédier, noch einmal irgendwann zur Räson zu bringen: „Heidegger ist der falsche Verdächtige“, postulierte der Heidegger-Verteidiger in der „Zeit“. Und weiter: „Der Antisemitismus, das ist der Judenhass. Bei Heidegger gibt es keine Spur von Hass. Er schreibt: ‚Die niedrigste, weil sich selbst erniedrigende Gesinnung ist der Hass: die vollendete Unfreiheit, die sich zur hohlen Überlegenheit aufspreizt.‘ Heideggers Vorstellung vom Dasein lässt jede Form von Rassismus unmöglich erscheinen. Sein Daseinsbegriff lässt nicht zu, den Menschen als Rasse zu denken.“

War Heidegger kein Rassist?

Zu diesem haarsträubenden Unsinn haben Alex Gruber und Gerhart Scheit in der „Jungle World“ bereits alles Nötige geschrieben, um deratige Behauptungen, wie sie nicht nur Fédier, sondern auch der familiär befangene Silvio Vietta in den letzten Wochen gegen jede Heidegger-Kritik ins Feld führten, zurückzuweisen: Antisemitismus und Rassismus so gleichzusetzen, wie man es im deutschen Gymnasiallehrer-Feuilleton für selbstverständlich zu halten scheint, geht an zentralen Erkenntnissen der Antisemitismusforschung vorbei. Benötigte doch der Antisemitismus eine solche Festlegung auf den Rassismus noch nie. Vielmehr konnte er auch schon im 19. Jahrhundert ganz ohne jeden offenen Biologismus liberal oder auch national begründet werden, was bei dem einflussreichen Romancier, „Grenzboten“-Redakteur und habilitierten Germanisten Gustav Freytag in den 1850er-Jahren zum Beispiel sogar ein und dasselbe war.

Heidegger wählte für seinen Antisemitismus angesichts des Erfolgs des Nationalsozialismus eine „seinsgeschichtliche“ Verbrämung, so Trawny: Der Denker entpersonalisierte das ‚Weltjudentum‘, rückte es mittels skurriler Metaphern ins scheinbar Unfassbare und begriff es gleichzeitig als eine geradezu metaphysische Macht. „Es zeigt sich hier, wie falsch die Gleichsetzung von Antisemitismus und Rassismus ist, die Behauptung, dass Antisemiten ihren Hass nur rassistisch begründen könnten“ schlussfolgern daher Gruber und Scheit in ihrem erwähnten Debattenbeitrag aus der „Jungle World“. „Die metaphysische Frage tut es ebenso, wenn nur die Antwort darauf, wer das Prinzip verkörpert, das für die ‚Entwurzelung‘ und ‚Zersetzung‘ des Eigentlichen verantwortlich ist, von vornherein feststeht. Er muss es gar nicht als Rasse im biologistischen Sinn verkörpern, das kann und soll sogar offen bleiben; wichtig ist nur, dass er vernichtet wird.“ Und weiter: „Für das Feuilleton ist hingegen die Gleichsetzung von Rassismus und Antisemitismus ein grundlegendes Element der Apologie: Antisemitismus ist hier nur als rassistisch denkbar, da Heidegger aber kein Rassist war, seine Vorstellungen von Volk und Gemeinschaft vielmehr seinsgeschichtlich begründete, kann er auch kein Antisemit gewesen sein.“

Trawny sieht allerdings genauer hin als diejenigen, die so argumentieren, und er zeigt, dass solche Behauptungen nicht einmal im Ansatz nachvollziehbar sind: Heideggers partielle Distanzierung vom Rassedenken impliziere keineswegs, dass der Philosoph den Begriff der „Rasse“ nicht ernst genommen habe, erklärt Trawny. Habe Heidegger doch eine „Entrassung der Völker“ als „Selbstentfremdung“ verstanden: Die „Rasse“ sei auch für Heidegger eine „notwendige“, wenn auch keine absolute „Bedingung“ des „Volkskörpers“ gewesen. Heideggers Rassismus unterschied sich also bloß graduell von demjenigen der meisten seiner Zeitgenossen. Doch war, wie gesagt, sein Antisemitismus von diesem Rassendenken keineswegs abhängig. Im Gegenteil: Typische Aussagen Heideggers, wie Trwany sie in seinem Buch immer wieder zitiert, um dies zu belegen, lauten etwa wie folgt: „Die Frage nach der Rolle des Weltjudentums ist keine rassische, sondern die metaphysische Frage nach der Art von Menschentümlichkeit, die schlechthin ungebunden die Entwurzelung alles Seienden aus dem Sein als weltgeschichtliche ‚Aufgabe‘ übernehmen kann.“

In klare Worte übersetzt sollte dies wohl schlicht soviel heißen wie: Das „Weltjudentum“ sei rassisch keinesfalls bestimmbar, sondern im Grunde sogar noch viel unheimlicher, weil es tatsächlich eine ungreifbare, allwissende und vollkommen verantwortungslose, also ubiquitäre metaphysische Macht besitze, welche die ‚heimatverbundenen‘, ‚bodenständigen‘ Deutschen wie auch die Nationalsozialisten heimtückisch aus ihrem ‚eigentlichen‘ Sein zu ‚entwurzeln‘ versuche – eine weltgeschichtliche ‚Aufgabe‘, die von Heidegger wohl deshalb ironisch in einfache Anführungsstriche gesetzt wird, weil es sich dabei aus der Perspektive seines paranoiden Wahnsystems in Wahrheit um eine historisch einmaliges, apokalyptisches Verbrechen an dem Volk der ‚Dichter und Denker‘ handelt.

Das ominöse „Rassedenken“, dessen Existenz Heidegger damit keineswegs leugnet, projiziert er auf die Juden – seien sie doch die ersten gewesen, die strikt nach diesem Prinzip gelebt hätten. Was Trawny in seiner Deutung dieser antisemitischen Strategie Heideggers richtig sieht, könnte man als eine Art Ernst-Nolte-Argumentation lange vor dem Historikerstreit von 1986 verstehen, als der revisionistische Historiker Nolte meinte, der Vernichtungskrieg der Nationalsozialisten sei bloß eine vorbeugende Maßnahme gegen die drohende europaweite Ausdehnung einer bereits zuvor verübten „asiatische Tat“ in der Sowjetunion gewesen. Auch die Nürnberger Rassengesetze zum „Schutze des deutschen Blutes“ waren laut Trawny für Heidegger offenbar etwas ganz Ähnliches: eine bloße Präventivmaßnahme in einem manichäisch verstandenen Konflikt mit den angeblichen rassentechnischen „Machenschaften“ des ‚Weltjudentums‘, welches das deutsche Blut als „Seiendes aus dem Sein“ heraus zu ‚verunreinigen‘ drohe.

Heidegger und die „Protokolle der Weisen von Zion“

Peter Trawny ist zugute zu halten, dass er in seiner ca. hundertseitigen Abhandlung um redliche Klarstellungen bemüht ist: Er spricht, wie erwähnt, von einem „seinsgeschichtlichen Antisemitismus“ Heideggers, der in den kommenden Jahren unweigerlich zu einer „institutionelle[n] Krise der Rezeption“ des Denkens dieses Philosophen führen werde. Da Trawny allerdings in der hysterischen Heidegger-Gemeinde nicht irgendwer ist, sind auch bei ihm immer wieder aufwallende Skrupel unübersehbar, einfach das zu konstatieren, was bei einem selbstherrlichen NS-Professor, der auch nach seinem vorübergehenden Freiburger Rektorat von 1933 für Adolf Hitlers antisemitische Reden stets „ein Ohr“ gehabt habe, wie Trawny einräumt, wenig verwunderlich ist – dass Heidegger nämlich zentrale Vorstellungen der „Protokolle der Weisen von Zion“ offensichtlich genauso wie Hitler für bare Münze nahm, um sie alltäglich in jene ‚besonderen Notizbücher‘ zu schreiben, die er mit pathetischem Schauer die „Schwarzen Hefte“ nannte.

Die Belege, die Trawny für Heideggers Rezeption der „Protokolle“ zusammengetragen hat, sind jedenfalls zahlreich und frappierend. Manchmal denkt man beim flüchtigen Lesen sogar, man habe gerade ein antisemitisches Zitat Adolf Hitlers gegen Exilanten wie Thomas Mann zur Kenntnis genommen, muss aber bei genauerem Hinsehen feststellen, dass Trawny an der Stelle Heidegger zitiert: „Das Weltjudentum, aufgestachelt durch die aus Deutschland hinausgelassenen Emigranten, ist überall unfaßbar und braucht sich bei aller Machtentfaltung nirgends an kriegerischen Handlungen zu beteiligen, wogegen uns nur bleibt, das beste Blut der Besten des eigenen Volkes zu opfern.“

Trawny zeigt, dass Heidegger ab 1939 davon ausging, dass ‚die Juden‘ genau so, wie es in den „Protokollen“ angekündigt wird und wie es auch Hitler sah, einen Weltkrieg vom Zaun gebrochen hätten, dem sich Deutschland nun verzweifelt entgegenzustellen habe. Das damals tatsächlich allein die Vernichtung des europäischen Judentums durch die Deutschen in die Tat umgesetzt wurde, interessierte Heidegger dabei wenig, wenn er vom Hauptfeind des verschwörerischen ,Weltjudentums’ schwadronierte. Egal, ob totalitäre oder westlich-demomkratische Staaten, ob kapitalistische oder kommunistische Systeme: Alle seien, so Heideggers widersprüchliche und damit typisch-antisemitische Weltverschwörungstheorie, durch das ‚machenschaftliche Weltjudentum‘ in dessen „Netze verstrickt“ und unterwandert worden.

Trawny muss an solchen Stellen nicht einmal explizit belegen, dass Heidegger den genauen Wortlaut der Verschwörungstheorie tatsächlich zur Kenntnis genommen hatte: Die Tradierung der „Protokolle“ zeichnet sich schließlich bis zum heutigen Tag gerade dadurch aus, dass zentrale Versatzstücke daraus auch in Umlauf bleiben, ohne dass die Menschen, die daran glauben, den Text jemals selbst gelesen haben müssten. So zitiert Trawny etwa Karl Jaspers‘ Bemerkung über Heidegger: „Ich sprach über die Judenfrage, über den bösartigen Unsinn von den Weisen von Zion, worauf er: ‚Es gibt doch eine gefährliche internationale Verbindung der Juden.‘“ Dies konnte man wohlgemerkt bereits vor Jahrzehnten bei Jaspers nachlesen und brauchte dafür keinesfalls die „Schwarzen Hefte“, über die sich das deutsche Feuilleton in den letzten Wochen so händeringend entsetzte.

Großes Erstaunen über das Offensichtliche

Entsprechend komisch wirken letztlich auch bei Trawny unnötige, diplomatische Volten wie die folgende, nachdem er in seiner Abhandlung Heideggers „seinsgeschichtlichen Antisemitismus“ erstmals ins Spiel gebracht hat: „Die Einführung des Begriffs muss wohlüberlegt sein. Denn es ist evident, dass sie verheerende Folgen zeitigen könnte. Der ‚Antisemit‘ ist moralisch und politisch erledigt – zumal nach der Shoah. Der Verdacht des Antisemitismus könnte die Heideggersche Philosophie mit großer Wucht treffen. Wie kann es sein, dass einer der größten Philosophen des 20. Jahrhunderts nicht nur für den Nationalsozialismus, sondern auch noch für den Antisemitismus gewesen ist? Es wird nicht leicht sein, die Frage zu beantworten. Sie – die Frage – stigmatisiert Heideggers Denken und stellt uns vor ein Rätsel.“

Man denke: Heidegger, der meinte, das Barbarische sei am „Dritten Reich“ das Positivste, war tatsächlich „nicht nur für den Nationalsozialismus, sondern auch noch für den Antisemitismus“! Wo ist an diesem Sachverhalt, fragt man sich, noch irgendein „Rätsel“ zu entdecken? Wo stellt sich hier noch eine „Frage“, die auch noch schwer zu beantworten sein soll? Ist es wirklich dermaßen verwunderlich, dass jemand, der den Nationalsozialismus befürwortete, auch ein antisemitisches Weltbild kultivierte? Hat Trawny etwa zuviel Ernst Jünger gelesen, den er in seinem Buch oft und auffällig gerne als Zeitzeugen herbeizitiert?

Wenn wichtige Heidegger-Kenner selbst mit dem Verständnis solcher historischer Banalitäten wie der Probleme haben, dass der Antisemitismus die zentrale Antriebskraft des Nationalsozialismus war, liegt der Verdacht nahe, dass ihnen die Philosophie ihres „größten“ Denkers des 20. Jahrhunderts bereits selbst das logische Denken ausgetrieben haben könnte.

Die Nationalsozialisten als Opfer jüdischer Machenschaften

Die Fakten liegen in den „Schwarzen Heften“ jedenfalls offen zutage: Zentrale Stichworte bei Heidegger, die Trawny immerhin schlüssig einzuordnen versteht, sind die angebliche „rechnerische Begabung“ des „Weltjudentums“, dass Heidegger als erste technologisch versierte Macht einstuft, die der „Machenschaft“ bzw. dem „Riesigen“ zuarbeite – geradezu infantil wirkende Metaphern, deren unfreiwillige Komik wohl nur Heidegger-Adepten zu ignorieren vermögen: Die „Machenschaft“, die bei Heidegger typischerweise auch mit seiner demonstrativen Feindschaft gegenüber England und seinem manifesten Antiamerikanismus gekoppelt ist, entpuppt sich als plumpe Chiffre für die Moderne und den technischen Fortschritt, den Heidegger, kurz gesagt, als zutiefst ‚undeutsch‘ empfand – wahrlich kein besonders origineller Gedanke, sondern im Grunde nichts anderes als eine typische Position rechter Intellektueller der Weimarer Republik und auch vieler Anhänger des in dieser Hinsicht zutiefst widersprüchlichen nationalsozialistischen Deutschlands. Wer nicht in einer Schwarzwaldhütte in Todtnauberg hockte und ergriffen dem Klang der Kuhglocken lauschte, um sich dabei tiefsinnige Gedanken über den Untergang des Abendlands zu machen, war für Heidegger offenbar bereits verdächtig, ein apokalyptischer Reiter der „Machenschaft“ zu sein. Noch schlimmer scheint für den beliebten Denker jedoch die Vorstellung gewesen zu sein, dass sich jemand der Grundrechenarten bediente: Eine der fixen antisemitischen Ideen bei Heidegger schreibe den Juden eine „Geschicklichkeit des Rechnens und Schiebens und Durcheinandermischens“ zu, referiert Trawny. Eine Vorstellung, die der offenbar mathematikfeindliche Schwarzwälder Provinzphilosoph, so Trawny entsetzt, „philosophisch erschreckend weit ausinterpretiert“ habe.

Wie Richard Wagner bereits im 19. Jahrhundert, sieht auch Heidegger die Juden als bloße Imitatoren geistiger und künstlerischer Hervorbringungen, als Spezialisten halbintellektueller Mimikry des deutschen Wesens. Heidegger, der Wagner vielfach anfeindete, erscheint tatsächlich in mehrfachem Sinne als Nachfolger dieses Komponisten bloßer „Unterleibsmusik“ (Heidegger). Der Philosoph verachtete die Juden als von der „Machenschaft“ beherrschte, „weltlos kalkulierende“ Subjekte, die sich mit ihren seelenlosen, uneigentlichen Zahlenspielchen eine heimatlose „Unterkunft im ‚Geist‘ verschafft“ hätten. Der deutsche ‚Geist‘ ist bei Heidegger dabei lächerlicherweise das ‚Nichts‘, in das sich der mutige Denker schutzlos fallen lassen müsse, um ‚wesentlich‘ zu werden: In diesem Kontext ist es klar, dass offen antiintellektuelle Selbstermahnungen wie die Folgende, die in den „Schwarzen Heften“ häufig wiederkehren, schlicht genauso klischeehaft antisemitisch gemeint sind, wie sie klingen: „Das Nichts sich nicht wegschwatzen lassen durch die kümmerliche Sicherheit eines wurzellosen Scharfsinns“.

Dass sich das nationalsozialistische Deutschland von dem angeblich so technikaffinen ‚Weltjudentum‘ in einen Krieg habe zerren lassen, begriff Heidegger als verhängnisvolle Folge der ominösen „Machenschaft“, die letztlich auch das „Dritte Reich“ infiziert habe: Was spitzfindige Heidegger-Priester erleichtert als eine verklausulierte zeitgenössische Kritik des Philosophen am Nationalsozialismus einstufen mögen, ist nach Trawny schlicht Heideggers Klage darüber, dass die Nazis nicht seiner esoterischen Vorstellung eines noch viel ‚wesentlicheren‘ Nationalsozialismus im Sinne eines kompletten revolutionären Neuanfangs allen Denkens und aller Philosophie entsprachen, sondern sich schließlich selbst zur modernen Aufrüstung, Technisierung und Verwüstung der Welt hinreißen ließen.

„Waren die Nationalsozialisten also eigentlich von der ‚Machenschaft‘ und d. h. von den Juden verführte Deutsche?“, fragt sich Trawny deshalb erstaunt weiter und reformuliert mit dieser anzunehmenden Insinuation Heideggers nichts weiter als eine gängige Idee vieler Holocaustleugner und Verschwörungstheoretiker, die Auschwitz bis heute gerne für eine gerissene Erfindung oder einen Plan der Juden halten: ,Die Juden‘ sind demnach die ‚wahren Nazis’, sie haben alles nur geplant, um die Deutschen zu ‚vernichten‘ und von  der Erkenntnis der Tatsache abzulenken, dass das ‚Weltjudentum‘ weiter an der Erlangung der Weltherrschaft arbeite: „Im Licht dieser Frage werden die Nationalsozialisten zu Marionetten der ‚überall unfaßbaren‘ Macht der Juden“, schlussfolgert Trawny. „Legen die ‚Protokolle‘ den Gedanken nicht nahe, dass der Nationalsozialismus die boshafteste Erfindung der Juden hätte sein können?“

Professor Heidegger bläst zum Großangriff

Gegen den nationalsozialistischen Vernichtungskrieg war Heidegger deswegen jedoch keineswegs. Der Herausgeber der „Schwarzen Hefte“ unterstreicht, dass Heidegger den Krieg gegen die halluzinierten ,allmächtigen Juden’ für unausweichlich und folgerichtig hielt, weil nun einmal der entscheidende Kampf mit dem ‚Weltjudentum‘ gekommen und zu entscheiden sei, komme, was wolle. Wenn man in den „Schwarzen Heften“ von 1931-1938 liest, findet man schnell weitere Belege für das, was Trawny in seinem Buch herausgearbeitet hat: Heidegger kultivierte bereits während seines scheiternden Freiburger Universitäts-Rektorats einen sich besonders clever gebenden, „geistigen Nationalsozialismus“, den er von einem „Vulgärnationalsozialismus“ absetzen zu können meinte. Sein Programm: „Metaphysik als Meta-politik.“

Manchmal klingt das, was der hochfahrende Rhetoriker hier notiert, sogar verdächtig nach Stefan George: „Wir werden in der unsichtbaren Front des geheimen geistigen Deutschland bleiben.“ Heidegger möchte derweil die große „Seinsfrage“ stellen. Ihm schwebt vor, den „geheimsten volklichen Auftrag des Deutschen zurückzuknüpfen in den großen Anfang“, sozusagen vorstellbar als Betätigung eines riesigen Reset-Knopfes für Deutschland und seinen kommenden Weg hin zu einem Tausendjährigen Reich. Heidegger frohlockt über eine „Unvergleichbarkeit der Weltstunde, deren Schlagraum die deutsche Philosophie zum Erklingen bringen soll“. Es sei nunmehr ein „herrlich erwachender volklicher Wille […] hinein in ein großes Weltdunkel“ am Werk, jauchzt der beglückte Metaphysiker in seinen Betrachtungen auf.

So kann man das, was man in Deutschland bis heute euphemistisch die „Machtergreifung“ Hitlers nennt, natürlich auch begrüßen. Bereits zu Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft sorgt sich Heidegger allerdings immer wieder darum, dass sich die NS-Revolution mit der zu diesem Zeitpunkt erlangten Macht bereits zufrieden geben könnte und notiert fordernd: „Entscheidend bleibt, ob die geistig-geschichtlichen Ausgriffe und Grundstimmungen so ursprünglich und zugleich so klar sind, daß sie eine schöpferische Umschaffung des Daseins erzwingen –; und dafür ist Voraussetzung, daß der Nationalsozialismus im Kampf bleibt – in der Lage des Sich-durchsetzen-müssens, nicht nur der ‚Ausbreitung‘ und des ‚Anwachsens‘ und Behauptens. Wo steht der Feind und wie wird er geschaffen? Wohin der Angriff? Mit welchen Waffen?“

Mit anderen Worten: Nachdem 1933 in Deutschland bereits alle Parteien außer der NSDAP verboten worden sind, während Oppositionelle zu Tausenden in den Folterkellern der SA verschwinden, Rektor Heidegger aufgrund des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933 stillschweigend jüdische Kollegen aus seiner Freiburger Universität entlässt und bald schon erste Boykotte jüdischer Geschäfte durchgeführt werden, ruft der übereifrige Hochschulpolitiker also bereits in hektischem Aktionismus nach etwas, das tatsächlich erst 1939 in die Tat umgesetzt wurde – einem apokalyptischen Krieg zur Konsolidierung und Weitertreibung dessen, was er für das Kernziel des ‚wahren‘ Nationalsozialismus hält.

Heideggers radikale NS-Hochschulpolitik

Auch mit seiner Freiburger Universität, mit deren Zustand Rektor Heidegger in seinen Notizbüchern immer wieder offen hadert, kann dieser Philosoph in den 1930er-Jahren noch nicht ganz zufrieden sein. Im Gegenteil: Selbst im Nationalsozialismus hält er seine Alma Mater nach wie vor für noch nicht straff genug organisiert. Hätten nun doch junge Emporkömmlinge das Sagen, die in ihrer ideologischen Selbstgewissheit noch mehr falsch machten als die alten Ordinarien. Heidegger vermisst offenbar eine vollkommenere allgemeine Unterordnung unter seine Privatvision eines zutiefst vom ‚Nichts‘ durchgeistigten „Dritten Reiches“: „Der Parlamentarismus des Senats und der Fakultäten ist zwar beseitigt. An die Stelle aber ist ein Rätesystem getreten, das eine Führung der Hochschule heute noch unmöglicher macht als früher.“

Wenn es nicht so furchtbar wäre, könnte man es geradezu belustigend finden, dass Heideggers Kritik des reformierten NS-Hochschulsystems stellenweise so klingt wie das heutige Lamento vieler Lehrender über den Bologna-Prozess: „Mit dem Ruf nach ‚lebensnaher Wissenschaft‘ betreibt man eine blinde Verschulung der Universität und damit die Zerstörung jedes echten Wissens, Abwürgung jedes ursprünglichen und stetigen Wissenwollens, Unterbindung jeglichen Versuchs der Eröffnung geistigen Seyns.“ Heidegger selbst schwebt nun wahrlich alles andere als eine „lebensnahe Wissenschaft“ vor, nicht einmal ein Leben, sondern der Fixpunkt des ‚Vorlaufens zum Tode‘ als Weg zur letzten Erkenntnis der gesamten Nation – er will den „Austrag eines unentfalteten Anfangs“, zurück „in den Aufruhr“, kurz: „Zurück müssen wir vollends in das Grundgeschehnis – wenn wir uns einen wahrhaften großen Untergang erkämpfen sollen.“

1941 sieht Heidegger in der gedanklichen Vernebelung dieses urdeutschen, wagnerianischen ‚Untergangs‘-Rauschs sogar den „letzten Akt“ des absurden apokalyptischen Geschehens voraus, dass „sich die Erde selbst in die Luft sprengen und das jetzige Menschentum verschwinden“ werde. Nein, es handelt sich nicht um einen misslungenen Hitler-Monolog aus Oliver Hirschbiegels Führerbunker-Melodram „Der Untergang“ (2005), und hier spricht auch keiner der irren Apartheids-Terroristen aus Christian Krachts und Ingo Niermanns Verschwörungstheorie-Satire „Metan“ (2007), worin weiße Rassisten die ‚dekadente‘ Menschheit vernichtet sehen möchten, weil sie damit einen Neuanfang der gesamten Evolution für möglich halten. Es ist vielmehr der weltberühmte und geachtete Philosoph Martin Heidegger, der sich in seinen „Schwarzen Heften“ genau das Gleiche wünscht wie diese Figuren – nur dass er seine Utopie der totalen Vernichtung ontologisch fasst: Sei doch dieser ominöse Weltuntergang, den er geradezu herbeisehnt, „kein Unglück, sondern die erste Reinigung des Seins von seiner tiefsten Verunstaltung durch die Vormacht des Seienden“.

„War Heidegger wirklich ein Antisemit?“

Nach dem Krieg, auch das arbeitet Trawny in seinem Buch heraus, äußerte sich Heidegger selbst gegenüber der ehemaligen jüdischen Geliebten Hannah Arendt niemals deutlich oder gar entschuldigend über die Shoah, ganz im Gegenteil: Er rechnete, ebenfalls ganz im Sinne vieler anderer prominenter Nationalsozialisten oder gemeiner NS-Mitläufer nach 1945, deutsche Opfer gegen diejenigen des Holocaust auf. Heidegger sonderte zwielichtige, ambivalent auffassbare Äußerungen ab, die man auch so verstehen konnte, dass die Judenvernichtung eventuell ihre Gründe gehabt haben könne, ohne dass er diese nennen musste. Auch dies war eine rhetorische Strategie, für deren Realisierung man keineswegs ein Werk wie „Sein und Zeit“ (1927) verfasst haben musste, um die nötige Intelligenz für derlei billige und dreiste Schutzbehauptungen aufzubringen. Schließlich kann man derartige Phrasen noch heute in jeder beliebigen deutschen Familie von den Großeltern oder Urgroßeltern zu hören bekommen, falls diese noch leben: „Opa war kein Nazi, und was die Juden betrifft, muss man die Zeit selbst erlebt haben, um beurteilen zu können, wie das damals alles kam!“ Heidegger behauptete aber sogar, eine „Vernichtung“ der Deutschen sei nach Kriegsende das beklagenswerte Programm einer ominösen „Rache“. Auch diese Anspielung ist eindeutig: Antisemiten brauchten keineswegs explizit zu erwähnen, wer hier angeblich Rache üben wollte, um sofort zu verstehen, wer genau damit gemeint sein könnte. Es waren in Heideggers Terminologie das „Riesenhafte“, die „Machenschaft“ und ihr zentraler Komplize, das nach wie vor umtriebige ,Weltjudentum’.

Am Ende kommt Trawny nicht um die leidige Diskussion einer in solchen Fällen immer noch üblichen Relativierungsstrategie herum, in dem er rhetorisch die alte Frage stellt, wie jemand wie Heidegger, dessen ‚beste Freundinnen und Freunde‘ Jüdinnen und Juden gewesen seien, so etwas wie die „Schwarzen Hefte“ überhaupt habe verfassen können: „War Heidegger wirklich ein Antisemit?“ Mit einem Wort von Hannah Arendt verweist Trawny hier schlüssig auf das uralte antisemitische Konstrukt sogenannter „Ausnahmejuden“, die selbst Hitler gekannt habe und die in solch einem Fall bloß die Regel bestätigten: Der freundliche Umgang mit Hannah Arendt, Paul Celan und anderen ist also auch für Trawny keinesfalls ein möglicher Einwand gegen die unabstreitbare Tatsache von Heideggers Antisemitismus.

So weit, so gut: Seltsam ist dennoch Trawnys demonstratives Erstaunen über eine gängige, schon bei Jean-Paul Sartre zu findende Beobachtung – nämlich die, dass ein Antisemit eben keine tatsächlichen Juden brauche, um seinen Hass zu begründen, sondern dass er sie sich einfach erfinde, sodass man ihm niemals mit dem Verweis auf einzelne existierende „prima Juden“ (Adolf Hitler) beikommen könne, die belegen sollen, dass alle ‚Vorurteile‘ gegenüber ihnen bloße Hirngespinste seien: „Schließlich gilt aber insbesondere für den seinsgeschichtlichen Antisemitismus, dass sich nur schwer vorstellen lässt, das, wogegen er sich richtet, verkörpere sich in bestimmten Personen. […] Jedes mögliche ‚Bild‘ geht am seinsgeschichtlichen Antisemitismus vorbei, kann ihm nicht entsprechen. Gibt es einen Antisemitismus ohne das konkrete ‚Bild‘ des angefeindeten Juden? Bei Heidegger scheint es dies zu geben.“

Dass Trawny dies dermaßen zu verwundern und er zu glauben scheint, bei Heidegger einen ganz neuen „Typus“ von Antisemitismus entdeckt zu haben, den er als „seinsgeschichtlichen“ ebenso überrascht betrachtet wie Ernst Jünger einen seltenen Käfer im umgestülpten Regenschirm, schürt den Verdacht, der Autor könne sich eventuell doch noch nicht allzuviel mit der Geschichte und der Erforschung des Antisemitismus beschäftigt haben. Letztlich lässt diese Beobachtung auch Trawnys Begriff eines „seinsgeschichtlichen“ Antisemitismus Heideggers zweifelhaft erscheinen. Entspricht dieser doch in Wahrheit ganz einfach einer ‚handelsüblichen‘, zu Heideggers Zeit sehr weit verbreiteten Ideologie. Sprich: Im Grunde pflegten Hinz und Kunz Heideggers Wahnvorstellungen zur Entstehungszeit der „Schwarzen Hefte“ ganz genauso, auch wenn sie dafür nicht ganz soviel akrobatischen Neologismus-Aufwand betrieben haben mochten wie ein Martin Heidegger. Von einem „seinsgeschichtlichen“ Antisemitismus Heideggers kann man also nur dann sprechen, wenn man das erbarmungswürdige Klimbim seiner Ausführungen immer noch irgendwie ernst nehmen will.

Nicht zuletzt muss man Trawny an der Stelle vorwerfen, dass er genau diese Tatsache einer allgemeinen zeitgenössischen Anschlussfähigkeit von Heideggers letztlich gar nicht so exklusivem Denken ansatzweise plötzlich wieder für Heidegger in Stellung zu bringen versucht. Darin gleicht er letztlich sogar seinem scharfen Kritiker Fédier: Wenn Heidegger bereits 1916 in einem Brief an seine Frau Elfride eine „Verjudung unserer Kultur u. Universitäten“ beklagte, so meint Trawny, dies sei damals nun einmal gang und gäbe und sogar bei jüdischen Politikern wie Walther Rathenau zu lesen gewesen. Im Kontext mit einem kurz zuvor zitierten Brief Heideggers an Hannah Arendt aus dem Jahr 1933, in dem der Philosoph erneut klipp und klar bekennt, er sei „heute in Universitätsfragen genauso Antisemit wie vor 10 Jahren und in Marburg, wo ich für diesen Antisemitismus sogar die Unterstützung von Jacobsthal und Friedländer fand“, droht eine solche Argumentation die anerkennenswerten Verdienste von Trawnys Buch zunichte zu machen.

Kann man den offensichtlichen Antisemitismus eines Individuums tatsächlich dadurch relativieren, dass dessen Ansichten in einer bestimmten Gesellschaft und zu einer bestimmten Zeit nun einmal allgemein ‚üblich‘ gewesen seien? Derartige Scheinargumentationen und Schutzbehauptungen, wie man sie sonst nur an irgendwelchen Stammtischen vermuten würde, sind eines Philosophen und Herausgebers, der die besondere logische und denkerische Durchdringung seines Gegenstands für sich in Anspruch nimmt, gelinde gesagt unwürdig. Mit derselben Begründung könnte man schließlich auch behaupten, Hitlers „Mein Kampf“ an heutigen Standards der ‚political correctness‘ zu messen, sei unlauter, weil der Autor damals bloß geschrieben habe, was in seiner Zeit nun einmal ‚Konsens‘ bzw. anschlussfähig gewesen sei. Die zusätzliche Argumentation, sogar namhafte Juden hätten seinerzeit ebenso gedacht, macht diese Rhetorik nicht besser, sondern eher noch schlimmer. Erinnert sie doch daran, dass auch Heidegger meinte, der NS-Rassismus sei nun einmal unvermeidlich, weil er bloß einem bereits existierenden Programm ‚der Juden‘ folge.

Selbst wenn dem so gewesen sein sollte, dass ‚auch die Juden‘ zeitweise antisemitische Vorstellungen tradierten, so relativiert doch eine solche Beobachtung keineswegs den Antisemitismus derartiger Ideen – einer gefährlichen Projektion, die wir wenigstens heute endlich einmal klar zu benennen und zu kritisieren haben, ganz egal, von wievielen Leuten und von wem sie im Einzelnen für die ‚Realität‘ gehalten wurde und wird.

Das Ergebnis von Trawnys Buch ist aber eindeutig, weil der Autor genau dies weitgehend beherzigt, trotz seines befremdlichen Zauderns: Die „Schwarzen Hefte“ und der weit über diese Texte hinausreichende Antisemitismus Heideggers machten eine „Revision“ seines Denkens nötig, betont Trawny. Wie weit diese „Revision“ tatsächlich gehen wird, müssen die kommenden Jahre allerdings erst noch zeigen. Angesichts der bisherigen Kontroverse gibt es Grund genug, pessimistisch zu sein. Gruber und Scheit haben jedenfalls in ihrer Analyse der aufschlussreichen Diskussion bereits resigniert abgewunken: „Die Therapie, die auf den Schock folgt, dient einzig der Katharsis: der psychischen Reinigung durch Inszenierung einer Debatte, deren einziger Zweck es ist, dass nicht das Geringste an Erkenntnis aus ihr folgt, um so weitermachen zu können wie bisher.“

An einer Stelle der „Schwarzen Hefte“ notiert Martin Heidegger: „Die Wahrheit einer Philosophie ruht in der Gleichniskraft ihres Werkes.“ Wenn diese „Gleichniskraft“ im Kern zustimmend auf den Antisemitismus verweist wie in dem Buch, in dem dieses Diktum steht, kann die Philosophie Heideggers, der die „Schwarzen Hefte“ in seinem Nachlass als krönendes Vermächtnis seines Denkens verstanden zu haben scheint, ‚eigentlich‘ nur noch erledigt sein. Doch es stimmt ja: Zuzutrauen ist den Heidegger-Jüngern vieles. Warten wir einfach ab, was sie sich als Nächstes einfallen lassen. 

Titelbild

Peter Trawny: Heidegger und der Mythos der jüdischen Weltverschwörung.
Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2014.
106 Seiten, 12,80 EUR.
ISBN-13: 9783465042044

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Martin Heidegger: Überlegungen II-IV (Schwarze Hefte 1931-1938). Gesamtausgabe, IV. Abteilung: Hinweise und Aufzeichnungen. Band 94. Hg. von Peter Trawny.
Herausgegeben von Peter Trawny.
Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2014.
536 Seiten, 58,00 EUR.
ISBN-13: 9783465038146

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