Mehrere Leben in einem

Bernhard Fischer berechnet das Leben Johann Friedrich Cottas

Von Johannes SchmidtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johannes Schmidt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Johann Wolfgang von Goethe hat mehr. Friedrich Schiller auch. Jean Paul und Heinrich von Kleist haben schon weniger. Und andere sogar gar nichts. Gemessen am Umfang der jeweiligen neueren Biografien seiner Autoren steht der Verleger Johann Friedrich Cotta mit stolzen 967 Seiten also gar nicht schlecht da. Und so kann sich die interessierte Öffentlichkeit anlässlich des 250. Geburtstags des ‚Königs aller Buchhändler‘ an einem wahren Wackerstein von Buch erfreuen.

Man kann über den bloßen Umfang schon staunen: Denn den 4400 von ihm und den über 30000 an ihn geschriebenen Briefen, all den politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Spuren dieses schwäbischen Großunternehmers steht ein geradezu erschreckender Mangel an persönlichen Zeugnissen gegenüber: keine Tagebücher, keine Lebensbeichten, kaum Persönliches in der Korrespondenz – fast scheint es, als habe der Mann, der die deutsche Verlagslandschaft nach 1800 prägte wie kein anderer, eine enorme Scheu vor dem geschriebenen Wort gehabt.

Für einen Biografen ist das eine Katastrophe – wie will man einer Person nachspüren, sie greifbar machen, wenn sie sich konsequent jedem direkten Zugang entzieht? Muss man das Projekt nicht als gescheitert betrachten, wenn der Biograf aufgrund dieses Mangels seine Ratlosigkeit angesichts einer kleinen Briefpassage gestehen muss? „War es seine Meinung oder war es nur Ironie oder bloß zuvorkommende Höflichkeit, dass er seinen unter französischer Besetzung geborenen Sohn Georg, genannt ,George‘, einen ,gesunden Republikaner‘ nannte?“, fragt Bernhard Fischer an einer Stelle. Und das, obwohl er für diese Lebensbeschreibung nicht nur zu den Quellen eilen konnte, sondern sie jahrelang selbst verwaltet hat: Von 1992 bis 2007 leitete er das Cotta-Archiv in Marbach, seitdem ist er Direktor des Weimarer Goethe- und Schiller-Archivs. Eine lange Zeit, die dieser Biografie nicht nur sehr gut getan hat, sondern sie überhaupt erst ermöglicht haben dürfte.

In sieben Kapiteln verfolgt Fischer den Lebensweg Cottas, der „am 27. April 1764 als fünftes Kind und dritter Sohn des Hof- und Canzleybuchdruckers Christoph Friedrich Cotta und der Rosalie Marianne Cotta, geb. Pirker, in Stuttgart geboren“ wurde. Dass das erste Kapitel die Jahre 1787 bis 1794 umfasst, erklärt sich aus der erwähnten düftigen Quellenlage: Über Cottas Kindheit ist so gut wie nichts bekannt. Über seine Eltern, wie überhaupt über seine Familie, geht Fischer in knappen Worten hinweg. Denn der „Verleger – Entrepreneur – Politiker“ Cotta, wie es im Untertitel heißt, tritt erst 1787 in Erscheinung, als der Vater ihm den eigenen Verlag zum Kauf anbietet.

Man kann es bereits erkennen: Johann Friedrich Cotta, der sich in Schweigen Hüllende, muss über Umwege entdeckt werden. Seine verlegerischen, ökonomischen und politischen Aktionen sind es, die ihn für uns konturieren. Vieles davon ist bekannt, schließlich haben sich schon vor Fischer einige Historiker und Biografen mit ihm befasst. Und so mancher Leser wird die Verhandlungen mit Schiller oder Goethe bereits aus deren Perspektive kennen – am Klassikerverlag führt eben für keinen Biografen in diesem Feld ein Weg vorbei. Aber es gibt ja auch noch den Cotta, der im vaterländischen Auftrag in den 1790er-Jahren ins allzu revolutionäre Nachbarland reist, um zwischen Württemberg, Österreich und Frankreich zu vermitteln. Den Cotta, der seinen Verlag nicht nur auf die späteren Klassiker stützt, sondern zugleich auch alle Wissenschaften bedienen will, der populäre, erbauliche Schriften ebenso verlegt wie provokative politische. Und den Cotta, der die Dampfschifffahrt auf dem Rhein vorantreibt – was sich für ihn am Ende nicht gerechnet hat. „Cotta führte mehrere Leben in einem“, resümiert Fischer. So viele Leben, dass das Schreiben zur Zeitverschwendung wurde – anders sind die vielen unleserlichen, verschliffenen Stellen in den Aufzeichnungen nicht zu erklären, für die Fischer eine eigene Sigle verwenden muss.

Vor allem aber ist dieser Proteus ein monetärer Rechenkünstler (mathematisch interessiert blieb er zeitlebens): Die Abkürzungen „fl.“ für Gulden und „rh.“ für Taler begleiten den Leser im wahrsten Sinne bis zur letzten Seite, ja, bis zum vorletzten Absatz. Immer wieder werden die Rechnungsbücher zitiert, Kalkulationen nachvollzogen, Ausgaben und Einnahmen verglichen, Vermögen berechnet, Vorschüsse addiert, Schulden verzeichnet und so weiter und so fort. Man könnte meinen: Den Mangel an persönlichen Zeugnissen machen die ökonomischen Erwägungen wett. Es ist die rastlose Tätigkeit, die diesen Mann auszeichnet, und so ist es kein Wunder, wenn man ihm in den Momenten am nächsten kommt, in denen man am eindrücklichsten von seinem Unternehmungsgeist erfährt. Ein Beispiel? Aus einem Brief vom November 1803:

„Denken Sie also das Resultat dises Jahrs:
Ich habe verlegt: 2 Zeitungen (worunter eine täg) 9 periodische Schriften, worunter 5 monat, 8 Almanachs (2 wurden nicht fertig, sonst wären es 10 geworden) 3 Fortgehende Werke (das eine bereits von 1100 Bog., das andre von 500) 17 neue Werke, 1 Karte von ganz Schwaben, die allein 45 Blatt halten wird, u. 50/m f kostet.
Zu diesen Werken gebrauchte ich 420 Bal à 5000 Bogen, förderte also mehr als 2 Millionen Bogen dises Jahr in die Welt – der geringste diser Ballen kostet f 16, der höchste f 500 – die Buchbinder bekamen dadurch 20/m Almanachs zu binden u. 75,000 Brochüre zu machen, u. verdienten bei f 12,000 56 Kupfer wurden geliefert, die bei 8000 f kosteten –“.

Der stete Blick auf die Finanzen taugt freilich nicht zur Kritik am Buch. Im Gegenteil, Bernhard Fischer ist es trotz der vielen Widrigkeiten gelungen, keine Verlags- sondern eine Lebensgeschichte zu schreiben, die sich kontinuierlich auf dem hohen Niveau bewegt, welches die biografischen Darstellungen in den letzten Jahren so oft auszeichnete. Cottas mutige Innovationslust und seine mitunter selbstgefällige Gerechtigkeit treten gleichermaßen aus den Zahlen hervor, wie sie durch die Zahlen ausgedrückt werden (etwa ein Schuldenerlass in Höhe mehrerer tausend Gulden für die Kinder eines verstorbenen Autors). Vor allem aber verzichtet Fischer auf wilde Spekulationen. Es gibt kein „Was wäre wenn?“ im großen Stil, wenn wieder einmal unklar ist, wie Cotta persönlich etwas wahrgenommen oder eingeschätzt hat, sondern höchstens das nüchterne Aufzeigen einiger Optionen, verbunden mit dem Eingeständnis, dass wir es schlicht nicht wissen können. In diesem Sinne ist die oben zitierte Briefstelle über den Sohn Georg auch kein Zeichen für Fischers Versagen, sondern für seine angemessene Vorsicht. Diese Haltung steht einem Biografen gut, und sie garantiert eine solide Basis für sein Werk.

Dennoch wird mancher Leser am Ende – im Jahr 1832 angekommen – diese Biografie etwas trocken finden – Fischer fällt ja tatsächlich nur selten in einen locker-erzählerischen Duktus. Aber gerade dadurch bringt sie eine Ordnung in die vielen Leben des Johann Friedrich Cotta, die diesen Mann durch die Facetten seines Tatendrangs näher zu bringen vermag. Fast überflüssig, diesem Buch eine Empfehlung auszusprechen: Wie der Cotta’sche Klassikerverlag im 19. Jahrhundert wird auch Fischers Biografie für eine ganze Weile eine unumgängliche Größe bleiben.

Titelbild

Bernhard Fischer: Johann Friedrich Cotta. Verleger – Entrepreneur – Politiker.
Wallstein Verlag, Göttingen 2014.
967 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-13: 9783835313965

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