Geheimnisse für den Fortschritt

Jost Hermand und Sabine Mödersheim haben einen Band mit heterogenen Fällen aus der Geschichte der deutschen Geheimgesellschaften seit der Frühen Neuzeit herausgegeben

Von Herbert JaumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Herbert Jaumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Band vereinigt die Vorträge, die im Frühjahr 2012 auf einer Tagung der Alexander von Humboldt-Stiftung, einem „Humboldt-Kolleg“, an der University of Wisconsin in Madison gehalten wurden. Er wurde vom Böhlau Verlag also ungewöhnlich rasch gedruckt. Die Tagung wurde von den Herausgebern organisiert, die beide in Madison am German Department unterrichten. Geheimgesellschaften und Geheimbünde interessieren hier nur insoweit, als sie „bestimmte gesellschaftspolitische Zielsetzungen in aufklärerischer, sozialistischer oder anarchistischer sowie nationalistischer oder nazifaschistischer Art ins Auge gefaßt haben“, und zwar „in progressionsbetonter oder reaktionärer Ausprägung“, wie es im Vorwort von Jost Hermand heißt. Mittelalterliche Traditionen werden „übergangen“, weil hier „meist religiöse Gründe“ vorlägen, dazu „mysteriöse oder gar okkulte Züge“, und überhaupt sei ihnen ein „geheimniskrämerischer Charakter“ eigentümlich. Geheime Gesellschaften „seit dem Beginn der Neuzeit im 16. Jahrhundert“ werden dagegen für kompatibel mit der neuzeitlichen „Gesellschaftspolitik“ gehalten. Das bedeutet, gemäß der Periodisierung aus Wisconsin haben wir „im 16. Jahrhundert“ das Mittelalter mit seinen Geheimniskrämern endlich hinter uns, es herrscht Kontinuität und es geht vergleichbar zu in der „Gesellschaftspolitik“, ohne „mysteriöse“ Flausen: entweder „progressionsbetont“ (was auch immer das ist) oder eben reaktionär, basta. Hauptinteresse und Fluchtpunkt aber ist trotz aller Frühen Neuzeit der von Hermand so genannte „Nazifaschismus“ und dessen (Vor-)Geschichte, Gegner und Nachleben.

Von einer eigentlichen historischen Fragestellung, an der man sich in den Analysen mehr oder weniger gemeinsam orientieren würde, kann in diesem Band jedoch keine Rede sein, und bei einer in einem so kurzen Prozess hergestellten Übersichtlichkeit und vermeintlichen Zugänglichkeit des Gegenstands liegen Anschlüsse an die Forschungsfelder ziemlich fern, auf denen man es sich seit Jahrzehnten in verschiedenen historischen Disziplinen und daher aus verschiedenen Richtungen mit den Geheimgesellschaften und den Phänomenen und Funktionen des Geheimen, des Arkanen und Esoterischen reichlich schwer gemacht hat: Neben den ausgedehnten Forschungen zur sogenannten Sozietätenbewegung[1] kann oder sollte man etwa an Lucian Hölschers Studie[2] denken oder an die Forschungen von Michael Voges,[3] Helmut Reinalter,[4] Peter Christian Ludz[5] und Michael W. Fischer[6] sowie neuerdings die Untersuchungen Frank Jacobs[7] über die „Thule-Gesellschaft“, um nur einige Autoren und Sammelbände zu nennen, die besonders anregend gewirkt haben. Man findet in diesem Band von alledem kaum Spuren, weder von den älteren noch von neueren Untersuchungen, und noch weniger werden Überlegungen begriffsgeschichtlicher oder systematisierender Art zu Geheimgesellschaften in differenten historischen Kontexten angestellt. Neben dem Fehlen der Auseinandersetzung mit der Forschung ist es also die mangelnde Abstimmung der Beiträge und ihrer Themen aufeinander, die deren Folge zu einer lockeren Addition heterogener Einzelansätze macht. Typisch für die Inflation der sogenannten „Tagungsbände“? Ich glaube, mit dieser wohlfeilen Klage setzt man am falschen Ende an. Sofern die Sammelbände, wie das gewöhnlich der Fall ist, nur die additive Struktur der Vortragsfolge reproduzieren, sind nicht die Tagungsbände, sondern die Tagungen selbst das Problem. Das ist nicht erst heute so, ist aber in den letzten Jahrzehnten immer deutlicher geworden. Die verächtliche Rede von einer Inflation der Tagungsbände, die oft auch von denen zu hören ist, die mit ihren Vorträgen in möglichst vielen davon vertreten sein wollen (wegen der Publikationsliste!), lenkt vom Elend der Tagungen ab, deren „Sache“ doch oft nur der lästige Anlass ist für sogenannte „Kommunikation“ („Vernetzung“ heißt das Zauberwort).

Bleiben also die einzelnen Beiträge, neun an der Zahl, die unterschiedlich ergiebig sind. Die ersten drei handeln von der Frühen Neuzeit, vier vom 19. oder 20. Jahrhundert, einer von der unmittelbaren Gegenwart – aber ohne dass eine solche Spannweite jemals ernsthafte Fragen danach erregt hätte, ob denn in diesen höchst unterschiedlichen Kontexten und Diskursen, in unterschiedlichen Zeitlagen, Gesellschaften, Personengruppen, Organisationsstrukturen, politischen Doktrinen und Zielen und so weiter. „Geheimnis“, „Geheimhaltung“, „Arkandisziplin“, um nur davon zu reden, immer dasselbe meint, ob es da nicht ganz verschiedene Begriffsinhalte, Funktionen und so weiter gibt. Wilhelm Voßkamps (Köln) eröffnender Beitrag über das Erzählen vom Geheimen in den klassischen Sozialutopien von Bacon, Campanella, Andreae und Schnabel, mit einem Zusatz über die „Turmgesellschaft“ in „Wilhelm Meisters Lehrjahren“, geht den paradoxen Fragen nach: „Wie kann ein Geheimnis geheim bleiben, wenn man [in Romanen] davon erzählt oder darüber gesprochen wird?“, und wie kann der Anspruch der Aufklärung eingelöst werden, „wenn das Projektierte der allgemeinen Kommunikation vorenthalten oder gar entzogen wird?“

Neben Jan Assmanns nützlichen Ausführungen über die Rolle der Weisheitstopik des alten Ägypten für den Geheimbund der „Illuminaten“ befasst sich auch Rainer Godel (Halle) mit dem Geheimbunddiskurs in der deutschen Aufklärung anhand einer wenig bekannten Auseinandersetzung Wielands mit dem Antiaufklärer Ernst Anton von Göchhausen, die in Wielands Aufsatz „Ein paar Goldkörner“ greifbar ist, der 1789 im „Teutschen Merkur“ gedruckt wurde. Die zugegeben komplizierten Kontexte dieses Konflikts werden in größtmöglicher Umständlichkeit rekonstruiert. Der noch immer erhellendste zeitgenössische Beitrag zum Paradox des Geheimen und der Aufklärung sind jedoch Lessings Dialoge mit dem Titel „Ernst und Falk. Gespräche für Freimäurer“ von 1778/80, auf die zurückzukommen sich auch hier gelohnt hätte. Carol Poore (Providence) befasst sich mit Geheimgesellschaften und der frühen deutschen Arbeiterbewegung und Corina L. Petrescu (Oxford/Miss.) behandelt den Widerstand der Organisation Schulze-Boysen/Harnack im „Dritten Reich“. Beide verarbeiten Informationen, die man nicht überall lesen kann, wie das auch für die Arbeiten des Mitherausgebers Hermand gilt, der alleine mit drei Beiträgen vertreten ist: über den kaum bekannten „Königsberger Tugendbund“ gegen Napoleon, über sogenannte „arioheroische Geheimbünde“ in der Vorgeschichte des „Dritten Reiches“ und mit einem Aufsatz über die Untaten des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ unserer Tage. Hermand hat sich nicht zuletzt deshalb seit den 1960er-Jahren große Verdienste um eine verantwortliche, weil politisch und ideologiekritisch reflektierte Germanistik erworben, weil er sich vor der Einbeziehung solcher Themen nie gescheut hat, auch wenn sich die analytische Ergiebigkeit oft in Grenzen hielt.

Reizvoll, auch weil Materialien aus England und den USA einbezogen werden, ist der Beitrag von Sabine Mödersheim (Madison) über die „Bildsymbolik der Rosenkreuzer und Freimaurer“. Dabei fällt auf (leider nicht der Autorin, aber dem unbefangenen Leser), dass der berühmte Freimaurer-Slogan „Aude, vide, tace“ (wage! sieh! schweig!) immer wieder mit „audi, vide, tace (si vis vivere in pace)“ verwechselt wird (hör! sieh! schweig! – wenn du in Frieden leben willst), offenbar ohne dass jemand den doch krassen Bedeutungsunterschied zwischen „aude“ und „audi“ je beachtet hätte („wage!“ gegenüber „hör!“). Aber simple Einzelheiten der lateinischen Formenlehre zählen wohl auch zu den Geheimnissen dieser Geheimbünde. Vielleicht sind sie inzwischen ihr größtes Geheimnis. Sic transit gloria mundi – oder „mundo“, wie der Freimaurer sagen würde.

Anmerkungen

[1]  Für die Frühe Neuzeit seit der Renaissance vor allem das zweibändige Werk Europäische Sozietätenbewegung und demokratische Tradition, herausgegeben von Klaus Garber und Heinz Wismann, Tübingen: Niemeyer 1996 (Frühe Neuzeit, 26-27); für das 18. Jahrhundert: Sozietäten, Netzwerke, Kommunikation. Neue Forschungen zur Vergesellschaftung im Jahrhundert der Aufklärung, herausgegeben von Holger Zaunstöck und Klaus Meumann, Tübingen: Niemeyer 2003, und generell Bernhard Jahn: Zur Typologie und Funktion der Sozietäten, in: IASL 24 (1999), Heft 2, S. 153-160.

[2] Lucian Hölscher: Öffentlichkeit und Geheimnis. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung zur Entstehung der Öffentlichkeit in der frühen Neuzeit, Stuttgart: Klett-Cotta 1979 (Sprache und Geschichte, 4).

[3] Michael Voges: Aufklärung und Geheimnis, Tübingen: Niemeyer 1987 (Hermaea, N.F. 53).

[4] Freimaurer und Geheimbünde im 18. Jahrhundert in Mitteleuropa, herausgegeben von Helmut Reinalter, 4. Auflage Frankfurt/Main: Suhrkamp 1993 (stw 403); ders.: Typologien des Verschwörungsdenkens, Innsbruck: Studien-Verlag 2004; ders.: Freimaurerei und europäischer Faschismus, ebda. 2009.

[5] Geheime Gesellschaften, herausgegeben von Peter Christian Ludz, Heidelberg: Lambert Schneider 1979 (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung, V/1).

[6] Michael W. Fischer: Die Aufklärung und ihr Gegenteil. Die Rolle der Geheimbünde in Wissenschaft und Politik, Berlin: Duncker & Humblot 1982 (Schriften zur Rechtstheorie, 97).

[7] Frank Jacob: Die Thule-Gesellschaft, Berlin: Uni-Edition 2010; ders.: Geheimgesellschaften. Kulturhistorische Sozialstudien, Würzburg: Königshausen + Neumann 2013, und ders.: Die Thule-Gesellschaft und die Kokuryûkai. Geheimgesellschaften im global-historischen Vergleich, ebda. 2013.

Titelbild

Jost Hermand / Sabine Mödersheim (Hg.): Deutsche Geheimgesellschaften. Von der frühen Neuzeit bis zur Gegenwart.
Böhlau Verlag, Köln 2013.
197 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783412209988

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