Asiens späte Rache am „Westen“ – ein Pyrrhussieg

Über Pankaj Mishras Buch „Aus den Ruinen des Empires“

Von Klaus-Jürgen BremmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus-Jürgen Bremm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Er habe erfinderische Gegenstände niemals geschätzt, ließ 1793 der chinesische Kaiser Qianlong, ein rüstiger Achtzigjähriger, den britischen Sondergesandten Lord George Macartney wissen, und es gebe in seinem Reich auch nicht den geringsten Bedarf an den Erzeugnissen Englands. Sofern König George III. tatsächlich an Beziehungen zu China interessiert sei, wäre es gut, wenn er einfach nach den Wünschen des Kaisers handele, seine Loyalität festige und ewigen Gehorsam schwöre.

Die herablassende Arroganz des chinesischen Herrschers gegenüber den Europäern schien damals durchaus gerechtfertigt. Qianlongs Reich stand auf dem Höhepunkt seiner Macht. Es hatte sich in den letzten Jahrzehnten noch erheblich nach Zentralasien ausgedehnt und war nicht nur in der Lage, seine 300 Millionen Menschen selbst zu versorgen, sondern auch noch durch den Export von Seide, Tee und Porzellan die Silberreserven der europäischen Mächte zu erschöpfen.

Kaum ein halbes Jahrhundert später jedoch konnten die Engländer – dank ihrer neuen dampfgetriebenen Kanonenboote – Qianlongs gedemütigten Nachfolgern die „ungleichen Verträge“ von Nanking diktieren. Großbritannien war inzwischen nicht nur zur größten Industriemacht der Welt aufgestiegen, sondern auch zu ihrem größten Drogenhändler und forderte für sein zersetzendes Gift dreist den freien Zugang zu Chinas Märkten.

Nach weiteren 50 Jahren war das einst unangreifbar scheinende Reich der Mitte, von jahrzehntelangen Bürgerkriegen erschüttert, zum Spielball der europäischen Mächte und der Vereinigten Staaten geworden, und die japanischen Nachbarn hatten sich 1895 nach einem kurzen Krieg gegen China die Insel Taiwan einverleibt.

Doch das ohnmächtige Reich war nur das prominenteste Beispiel für den dramatischen Abstieg Asiens gegenüber den Mächten des atlantischen Westens, auf die man selbst so lange herabgeblickt hatte. Der Reihe nach waren die einst stolzen Imperien des Ostens, das Osmanische Reich oder Persien, unter massiven europäischen Einfluss geraten oder wurden sogar, wie im Falle Indiens oder Ägyptens, direkt von den Briten kontrolliert. Überall gingen die Europäer nach derselben Methode vor. Politiker und Geschäftsleute zwangen mit Überredung oder militärischem Druck die durchaus reformwilligen Herrscher zur Öffnung ihrer Märkte, lockten mit teuren Krediten für Modernisierungsprojekte und ließen sich schließlich auch noch die Rechte an den Bodenschätzen des jeweiligen Landes übertragen.

Der indische Publizist Pankaj Mishra hat nun in seiner lesenswerten Studie über den Westen und die asiatischen Mächte den intellektuellen Kampf islamischer, indischer und chinesischer Autoren gegen die erdrückende Dominanz der Europäer im Zeitalter des Imperialismus nachgezeichnet. Im Zentrum seines beeindruckenden geistigen Panoramas stehen drei Autoren, die in ihrer Zeit ungeheuren Einfluss besaßen, in Europa aber inzwischen so gut wie vergessen sind. Zu Unrecht! Dabei war es immerhin der Iraner Jamal al Afghani, der als erster islamischer Denker die Begriffe „Islam“ und „Westen“ als unversöhnliche Gegensätze prägte und damit zum Stichwortgeber einer heute wieder aktuellen und sich rasant verschärfenden Frontstellung wurde. Wie der indische Literaturnobelpreisträger von 1913, Rabindranath Tagore, und der Chinese Liang Qichao war auch der charismatische Al Afghani auf seiner langen Wanderschaft zwischen Kabul, Kairo, Konstantinopel und Paris hin und her gerissen zwischen Nationalismus und Panislamismus beziehungsweise Panasianismus. Alle drei Autoren und später auch ihre Schüler sahen sich vor die grundsätzliche Entscheidung zwischen Bilderstürmerei und Traditionalismus gestellt, vor das Problem also, ob Asien seine kulturellen Wurzeln zugunsten westlicher Normen und Praktiken aufgeben oder auf Dauer die Überlegenheit der Europäer akzeptieren sollte. Mishra referiert ihre Lage folgendermaßen: „Persönlich ohne jede Macht, schwankten sie zwischen Hoffnung und Verzweiflung, kraftvollen Engagement und dem Gefühl der Vergeblichkeit. Dennoch lässt sich in ihrer Wahrnehmung eine erstaunliche Übereinstimmung erkennen, und zwar weil diese Denker und Aktivisten eine befriedigende Antwort auf ein und dieselbe Frage suchten: Wie sie selbst und andere mit dem Dahinschwinden ihrer eigenen Zivilisation durch inneren Zerfall und Verwestlichung zurechtkommen und wieder Gleichberechtigung und Würde in den Augen der weißen Herren der Welt gewinnen konnten.“

Qichao, Tagore wie auch Al Afghani hassten zwar die Europäer, kannten sich jedoch in ihrer Geschichte und in ihren politischen Verhältnissen bestens aus. So las Qichao die philosophischen Klassiker von Aristoteles bis Jean-Jacques Rousseau und verfasste sogar biografische Studien über Oliver Cromwell, Camillo Benso von Cavour und Giuseppe Mazzini, während Al Afghani 1883 in Paris eine viel beachtete Debatte mit dem Religionskritiker Ernest Renan führte, der dem Islam grundsätzlich die Fähigkeit zu Fortschritt und Wissenschaft abgesprochen hatte. In Al Afghanis Erwiderung spiegelte sich dann auch einmal mehr seine Lieblingsidee, einst zum „Luther“ des Islam zu werden. Denn so wie das Christentum durch den Wittenberger Martin Luther reformiert und schließlich von der Wissenschaft verdrängt wurde, könne auch seine Religion, nach Erfüllung ihrer zivilisatorischen Mission bei den islamischen Völkern zum Wegbereiter moderner Wissenschaften werden. Es versteht sich, dass Al Afghani bemüht war, derartige Ansichten nicht im islamischen Raum publik werden zu lassen.

Alle drei Autoren, deren intellektuelle Biografien Mishra sehr spannend nachzeichnet, scheitern allerdings an der selbst gesetzten Aufgabe, die westliche Ideologie des individuellen Materialismus mit einem überzeugenden und zukunftsfähigen Gegenentwurf zu beantworten. Auch wenn asiatische Völker seit Japans Seesieg bei Tsushima (1905) bis zur chaotischen Evakuierung der US-Botschaft von Saigon (1975) im 20. Jahrhundert reichlich Gelegenheit hatten, über ihre ehemaligen europäischen Herren militärisch zu triumphieren, so sind es doch nach wie vor westliche Rezepte wie etwa der Nationalismus in der Türkei und in Indien oder wie im Falle der Volksrepublik China eine Melange aus Manchesterkapitalismus und Kommunismus, die heute noch die politische Realität in Asien prägen.

Das Gefühl der Demütigung, das seine Protagonisten noch so umgetrieben hatte, sei daher, so Mishra, erheblich schwächer geworden. In vielerlei Hinsicht könne sogar der ökonomische Aufstieg der asiatischen Staaten als die Vollendung der Revolte, die vor etwa einhundert Jahren begonnen hatte, betrachtet werden. Doch die „Rache des Ostens“ ist in den Augen des Verfassers nicht mehr als ein Pyrrhussieg. Auch nach dem Rückzug der Europäer wirkt das zersetzende Gift ihrer materialistischen Ideologie ungebremst weiter. Die Hoffnung von Milliarden von Konsumenten in Indien oder China, eines Tages denselben Lebensstandard wie Europäer oder Amerikaner zu erreichen, brandmarkt Mishra als „absurde und gefährliche Phantasie“. Denn sie verdamme die Umwelt dazu, im globalen Umfang zerstört zu werden und erzeuge nur ein gewaltiges Reservoir an nihilistischer Wut und Enttäuschung bei vielen hundert Millionen Habenichtsen. Doch eine neue antimaterialistische Utopie ist nirgendwo in Sicht. Sie zu finden, wäre allerdings inzwischen auch schon eine globale Aufgabe.

Titelbild

Pankaj Mishra: Aus den Ruinen des Empires. Die Revolte gegen den Westen und der Wiederaufstieg Asiens.
Übersetzt aus dem Englischen von Michael Bischoff.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2013.
448 Seiten, 26,99 EUR.
ISBN-13: 9783100488381

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