Erfahrung und Erforschung der Geschichte statt Instrumentalisierung für den guten Zweck

Carsten Dutt im Gespräch mit dem großen Historiker Reinhart Koselleck

Von Herbert JaumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Herbert Jaumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Vater Arno Koselleck (1891-1977), der am Beginn seiner Karriere als Historiker und Pädagoge in Görlitz, Breslau und Kassel noch von dem liberalen Bildungsreformer und preußischen Kultusminister Carl Heinrich Becker (gestorben 1930) gefördert worden war, gab im Jahre 1957, inzwischen pensionierter Direktor und Professor für Didaktik des Geschichtsunterrichts an der PH Hannover, einen Geschichtsatlas heraus und beauftragte seinen in Heidelberg promovierten Sohn, die auf das 19. und 20. Jahrhundert bezogenen Texte zu gestalten. „Mit Bezug auf die Judenvernichtung“, erinnert sich Reinhart Koselleck, „formulierte ich den Text: ‚Die Nationalsozialisten rotteten Millionen von wehrlosen Juden aus’. Stattdessen hat der Verleger Flemming [Hamburg] den Text umgewandelt und folgende Formulierung eingeschleust: ‚Die Rassenverfolgung brachte namenloses Leid über die Juden’. Mein Vater hat die Erstfassung in den Fahnen zurückredigiert, aber die Endfassung des gedruckten Atlasses enthielt wieder die euphemistische Schönfärberei, die der Verleger – zum Zwecke des besseren Absatzes offenbar – eingeschleust hatte.“

Ein kleines, gewiss nicht prominentes, aber typisches Beispiel für das subtile Verwischen historischer Tatbestände und Verantwortlichkeiten, wie man es auch heute in verschiedensten Zusammenhängen der politischen Apologetik findet: Die Benennung der Täter wird durch die Bezeichnung des subjektlosen Sachverhaltes ersetzt („Rassenverfolgung“), dem gleichwohl durch Gebrauch eines transitiven Verbs eine Aktivität unterstellt wird (die Rassenverfolgung „brachte“ …), und um diese abstrakte Unmöglichkeit zu vertuschen, wird die Aussage mit formelhaften Wendungen einer behaupteten Anteilnahme gewissermaßen emotional verschmiert („namenloses Leid“).

Das erste der beiden Gespräche, die der in Notre Dame/Indiana lehrende Germanist Carsten Dutt 2003/2004 mit Reinhart Koselleck über dessen nicht nur intellektuelle Biografie geführt hat, enthält zahlreiche Geschichten und Bemerkungen dieser lehrreichen Art. Es besteht aus zwei Fragmenten eines geplanten größeren Bandes mit Unterhaltungen über die Zeitgenossenschaft Kosellecks, der am 3. Februar 2006 verstorben ist. Neben den Erinnerungen des 1923 in Görlitz Geborenen an die Jugend in der NS-Zeit sind die 1950er-Jahre in Heidelberg für Kosellecks intellektuelle Biografie ausschlaggebend gewesen: mit Karl Jaspers, der bald nach Basel ging und für ihn als Lehrer ausdrücklich „die geringste Rolle“ gespielt hat, mit Hans Georg Gadamer und vor allem mit dem Historiker Johannes Kühn, mit Fritz Ernst, dem aus der Emigration heimgekehrten Philosophen Karl Löwith (und Martin Heidegger als Gast in dessen Kolloquien) und dem Staatsrechler Ernst Forsthoff. Nach Kriegsdienst und russischer Gefangenschaft begann die Heidelberger Studienzeit spät und dauerte ungewöhnlich lang, wie man zum Beispiel beim Jugendfreund Ivan Nagel lesen kann.[1]

Eingehender ist die Rede vom Freund Hanno Kesting (gestorben 1975), dem Soziologen, und von der frühen Bekanntschaft mit Carl Schmitt, „einem der geistreichsten Anreger, denen ich in meinem Leben begegnet bin“, sowie von den frühen utopiekritischen Motiven seines Denkens. Kritik der Geschichtsphilosophie als einer „Selbstermächtigungsgarantie für die Akteure“ und der totalitären Herrschaft war eine in den 1950er-Jahren nicht seltene Form der intellektuellen Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit – auch angesichts der noch überall erkennbaren Reste und Folgen – wie auch mit dem östlichen Sowjetismus. Hannah Arendts „The Origins of Totalitarianism“ war bereits 1951 erschienen, die von der Verfasserin selbst übersetzte und dabei überarbeitete deutsche Version „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ bereits im Jahre 1955 (in Frankfurt/Main bei der Europäischen Verlagsanstalt). Leider erfahren wir in diesen Fragmenten eines sehr viel größer angelegten, aber nicht mehr zu Ende geführten Gesprächsbuches kaum etwas über die Entstehung und den theoretischen Kontext der heute berühmten Heidelberger Dissertation von 1954: „Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt“ (zuerst Freiburg bei Alber 1959, aber in der Breite wirksam erst in der Suhrkamp-Ausgabe von 1973), deren Untertitel bereits auf die These von der sogenannten „Sattelzeit“ im späten 18. Jahrhundert verweist und noch immer höchst lesenswert ist – nicht nur für Aufklärungsforscher. Dafür, wie auch über die spezifische Form der Begriffsgeschichte Kosellecks, ist der 2011 von Hans Joas herausgegebene Band mit zahlreichen Studien über das Werk, der auch die Gedenkrede von Ivan Nagel noch einmal enthält, erheblich ergiebiger.[2]

Etwas mehr von den Leistungen und den Themen, die den Forscher und Theoretiker Koselleck ein halbes Jahrhundert lang umgetrieben haben, wird im zweiten Gespräch mit dem Titel „Geschichte(n) und Historik“ angesprochen, das dadurch einen Platz neben den Aufsätzen erhält, die in den verschiedenen Sammelbänden zusammengestellt sind.[3] Immerhin ist, um nur diesen Punkt anzusprechen, erst durch ihn das Bewusstsein von der „Historik“ als der genuinen Theorie der Geschichte, die für die bürgerliche Epoche durch Johann Gustav Droysen im 19. Jahrhundert begründet wurde, wieder in die Humanwissenschaften eingebracht worden und hat ein bis heute boomendes Interesse an Traditionen der Geschichtstheorie begründet. Erwähnung finden im zweiten Gespräch wiederum die spezifische Kritik der Geschichtsphilosophie und die Lage der Historik nach deren epochalem Scheitern sowie die Beziehung zu Gadamers Hermeneutik, zu Utopie und Revolution und zur Anthropologie. Bemerkenswert, aber auch erwartbar ist hier die distanzierte Einschätzung der modischen Aufwertung der Narrativität in der Geschichtsschreibung durch den amerikanischen Historiker Hayden White, zu dessen deutscher Rezeption Koselleck in den 1980er-Jahren selbst beigetragen hat. Seine Kritik richtet sich vor allem darauf, dass mit der Propagierung von Narration als dem Stichwort für mehr oder weniger literarische Schreibweisen bei White und seinen Anhängern über die Hauptaufgaben der Geschichtswissenschaft, nämlich die wissenschaftliche Quellenexegese und deren Verhältnis zur Schreibweise, noch gar nichts gesagt ist. Damit zusammenhängend wird wiederum das Problem der Identifikation mit Geschichte und der Identitätsbearbeitung oder gar -stiftung durch Geschichte angesprochen, ein großes Thema der Debatte um Erinnerungskultur, Geschichts- und Wissenschaftspolitik. Koselleck hat solchen Zumutungen gegenüber der Geschichte als Wissenschaft schon immer skeptisch bis ablehnend gegenübergestanden, sowohl was die Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit, zur Identitätsbildung überhaupt beitragen zu können, noch mehr aber was Auftrag oder gar Pflicht der Historie zu derlei Leistungen und Relevanzbeweisen angeht. Der moderne Historiker hat nach Koselleck nicht die Aufgabe, Identifikation zu ermöglichen und Identität zu stiften, er ist vielmehr berufen, diese kritisch zu befragen und allenfalls zu negieren und zu zerstören. Andernfalls dient Wissenschaft sich der Macht an. Der Philosoph Hermann Lübbe sprach dagegen, mit der ihm eigenen Grausamkeit bei der Behandlung der deutschen Sprache, von „Identitätspräsentationsfunktion der Historie“.[4]

Anmerkungen

[1] Ivan Nagel: Der Kritiker der Krise, in: Reinhart Koselleck (1923-2006). Reden zum 50. Jahrestag seiner Promotion in Heidelberg. Herausgegeben von Stefan Weinfurter, Heidelberg: Carl Winter 2006, S. 23-31.

[2] Begriffene Geschichte. Beiträge zum Werk Reinhart Kosellecks. Herausgegeben von Hans Joas und Peter Vogt, Frankfurt/Main: suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2011. Darin mehrere Untersuchungen zu Quellen und Problemen der Begriffsgeschichte (Teil II und III) sowie in Teil IV allein 8 Beiträge mit „Prüfungen der Sattelzeitthese“.

[3] Das Gespräch wurde mit gleichem Titel gedruckt in: Internationale Zeitschrift für Philosophie 2/2001, S. 257-271, eine spanische Übersetzung ist 2003 erschienen. Die Aufsatzsammlungen Kosellecks haben die Titel Vergangene Zukunft (1979), Zeitgeschichten (2000), Begriffsgeschichten (2006) und Vom Sinn und Unsinn der Geschichte (2010).

[4] Vgl. Hermann Lübbe: Zur Identitätspräsentationsfunktion der Historie, in: Identität, herausgegeben von Odo Marquard und Karlheinz Stierle, München: Fink 1979 (Historik und Hermeneutik VIII), S. 277-292.

Titelbild

Reinhart Koselleck / Carsten Dutt: Erfahrene Geschichte. Zwei Gespräche.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2013.
73 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783825362782

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