Ironisch und selbstironisch, mit Witz und Esprit

Denis Diderots „Jacques der Fatalist und sein Herr“ unterhält auch nach 250 Jahren noch prächtig

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Wie waren sie einander begegnet? – Durch Zufall, wie alle. – Wie hießen sie? – Was schert Sie das? – Wo kamen sie her? – Vom nächstgelegenen Ort. – Wohin gingen sie? – Wer weiß schon, wohin er geht? – Was sagten sie? – Der Herr sagte nichts, und Jacques sagte, sein Hauptmann habe gesagt, alles Gute oder Schlechte, das uns hienieden widerfährt, stehe dort oben geschrieben.“

So beginnt Diderots Roman über Jacques, den „Fatalisten“, und so und ähnlich geht er weiter. Die Story ist eigentlich sehr einfach: Der Diener Jacques reitet mit seinem adligen Herrn durch Frankreich und versucht, seine Liebesgeschichte zu erzählen, was ihm aber nicht gelingt, weil er immer wieder abgelenkt wird. Auch der Erzähler des Romans: Ständig schweift er ab, ständig lässt er seine Personen hierhin oder dorthin laufen, ohne dass das irgendetwas mit der „eigentlichen Geschichte“ zu tun hätte. Und schnell gibt es eine eigentliche Geschichte gar nicht mehr, es ist als wenn sie sich treiben ließen. Neun Tage lang sind sie unterwegs, „wer weiß schon, wohin“, erleben ihre kleinen Abenteuer, erzählen sich Geschichten, unterbrechen sich, diskutieren über die philosophische Frage, ob alles oben „geschrieben steht“ oder nicht, und was das bedeutet.

Und immer passiert etwas Unerwartetes. Sei es, dass ihnen eine Kutsche mit einem Sarg begegnet,sei es, dass Jacques seine Börse und die Uhr seines Herrn holen muss, die er in der letzten Gaststätte vergessen hat. Immer wieder schickt der Erzähler sie hierhin und dorthin oder lässt sie jemanden treffen oder lässt Jacques sich an etwas erinnern, ohne dass das irgendwohin führen würde, außer dass die Geschichte mäandert und mäandert und mäandert. Und die Struktur des Romans entspricht genau dem Inhalt: Steht alles „oben geschrieben“, ist alles festgelegt, oder haben wir einen freien Willen? Kann also der Roman sich in alle möglichen Richtungen entwickeln, nach zufälligen Entwicklungen und Abenteuern, wie es noch der uferlose Barockroman zelebrierte?

Aber nicht nur das. Wie im ersten Absatz schon zu sehen ist, spricht der Erzähler auch mit den Lesern und diese mit ihm: „Sie sehen, werter Leser, ich bin auf einem guten Wege, und jetzt läge es ganz bei mir, Sie ein Jahr, zwei Jahre, drei Jahre auf den Bericht von Jacques’ Liebesdingen warten zu lassen, indem ich ihn von seinem Herrn trenne und beide sämtlichen Zufällen unterwerfe, die mir so in den Sinn kämen. […] Aber ich lasse die beiden mit einer schlechten Nacht und Sie mit dieser Verzögerung davonkommen.“ So geht das immer wieder.

Aber während dieser Abschweifungen, die Diderot von Lawrence Sternes grandiosem „Tristram Shandy“ übernommen hat, werden viele Themen immer wieder diskutiert: Vorsehung und freier Wille, Poetologie des Romans und Tugend, Dichtkunst und Beziehungen zwischen Diener und Herr, die Rolle des Lesers und die Liebe – kaum ein Thema wird ausgelassen.

Es ist ein ziemliches Durcheinander, das hier ausgebreitet wird, und das muss man mögen, um diesen Roman genießen zu können. Wer eine ausgefeilte Story will, sollte zu Hemingway greifen. Wer aber einen amüsanten, ironischen und selbstironischen, spielerischen und noch nach über 250 Jahren experimentellen Roman lesen will, der Witz und Esprit hat, wird hier bestens bedient. Dabei streift er auch die wichtigen Themen seiner Zeit: Was ist das Wesen der Liebe? Wie wichtig ist im Leben die Erotik? Wie sind die Beziehungen zwischen Mann und Frau? Kommt alles von Gott oder dem Schicksal oder haben wir einen freien Willen? (Was zu Diderots Zeit eine lebensgefährliche Annahme sein konnte.) Wie ist die Beziehung zwischen Herr und Knecht, oben und unten? Denn Diderot hat hier, kurz vor der Französischen Revolution, die Rollen umgedreht und den Diener, wie in der italienischen Commedia dell’Arte und bei Beaumarchais, zum eigentlichen Protagonisten gemacht. Dass Philosophie auch Spaß machen kann, das erfährt man in diesem Roman des großen Enzyklopädisten und Aufklärers Denis Diderot. Kein Wunder, dass er auf der diesjährigen Kurzliste für den Preis der Leipziger Buchmesse stand (für die Übersetzung).

Titelbild

Denis Diderot: Jacques der Fatalist und sein Herr.
Übersetzt aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2013.
428 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783882210583

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