Der Nordseeraum hebt an zu singen

Das angelsächsische Heldenlied „Beowulf” in einer Neuübersetzung

Von Nick OstrauRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nick Ostrau

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gibt im angelsächsischen Sprachraum wohl kaum einen Schüler, dem der Name „Beowulf“ aus dem Schulunterricht nicht vertraut im Ohr liegen würde. Was der deutschen Germanistik ihr Nibelungenlied um den unbezwingbaren Recken Siegfried ist, ist der englischen Literaturwissenschaft die Geschichte um einen jungen Helden aus Skandinavien, der aus dem südschwedischen Gaetland aufbricht, um dem Dänenkönig Hrothgar bei der Bezwingung des Ungeheuers Grendel und dessen auf Rache sinnender Mutter zu helfen, der dann im eigenen Lande König wird und der schließlich im Kampf mit einem Drachen den ehrenvollen Heldentod stirbt.

Das nicht abreißen wollende Interesse am „Beowulf“-Mythos vor allem in Großbritannien, den USA und den skandinavischen Ländern lässt sich nicht allein damit begründen, dass der Text aus dem 8. bis 11. Jahrhundert die älteste schriftliche Überlieferung der altenglischen Sprachgeschichte darstellt. Das Heldenlied ist gleichzeitig ein einmaliges Zeugnis der sich in ständiger Bewegung befindlichen germanischen Stammeskulturen des frühen nördlichen Europas. Da wundert es nicht, dass in den letzten Jahrzehnten zahlreiche internationale Filmadaptionen zum „Beowulf“ in englischer und skandinavischer Sprache entstanden sind, nicht zuletzt das starbesetzte Hollywoodspektakel aus dem Jahr 2007 mit Angelina Jolie und Anthony Hopkins in den Hauptrollen. Höchste Zeit also, dass dem Urtext auch in Deutschland wieder größeres Gehör geschenkt wird.

Das „Beowulf“-Epos liegt nun in einer neuen hochdeutschen Übersetzung von Johannes Frey vor. Anders als Karl Simrock, der den Text zuerst im Jahr 1859 übersetzte, präsentiert Frey nach eigener Angabe keine dem Original streng linguistisch verhaftete, sondern eine poetische Übertragung, der die Leser heute ebenso folgen können wie damals die Zuhörer dem Urtext. Dabei gelingt Frey der Kompromiss erstaunlich gut, die feste Struktur der altenglischen Verse mit deren Aufteilung in Halbzeilen, betonten und unbetonten Silben und Stabreim weitgehend beizubehalten, ohne dabei Textfluss und Verständnis zu beeinträchtigen.

Freys Freude am Übersetzen des anonymen Beowulf-Dichters offenbart sich besonders am Spiel mit den Kennings, jenen in der altgermanischen Welt so beliebten Komposita-Metaphern für alltägliche Begriffe wie Himmel, Meer, Schiff und Krieger. Mit großer Sprachgewandtheit übersetzt Frey in einfach verständliches modernes Deutsch: ‚Wogenbezwinger’ für ‚Schiff’, ‚Weg der Schwäne’ für ‚Meer’ und ‚Hüter der Dänen’ für den Helden ‚Beowulf’.

Die Textgestaltung der neuen Reclam-Edition trägt unbedingt zum Verständnis des immerhin 1.000 Jahre alten, viele Länder und Generationen umspannenden Epos bei. Alle Sinnabschnitte sind durchgehend nummeriert, Zeilen am oberen Rand markiert und die natürlichen Pausen zwischen den Halbzeilen durch Leerstellen deutlich als Zäsuren gekennzeichnet.

Über den Text und das Nachwort des Übersetzers hinaus bietet der neue „Beowulf“ kritische Anmerkungen zum Text, einen Stammbaum zu den verschiedenen im Text erwähnten germanischen Stämmen, einen knapp gehaltenen Überblick über Textgeschichte und Lebenswelt des Verfassers, sowie einen Einblick in die linguistischen Eigenheiten des Originals. Auch die bei Reclam üblichen kurzen Literaturhinweise zu älteren „Beowulf“-Ausgaben und eine Auswahl an kritischer Primär- und Sekundärliteratur fehlen nicht. Die Reclamausgabe ermöglicht gerade dem interessierten Laien eine sehr gute Orientierungshilfe und einen schnellen Einstieg in die Welt des angelsächsischen Heldenliedes. Die ansprechende Gestaltung des Titelbildes und der hochwertig gearbeitete laminierte Schutzumschlag sind eine erfreuliche Zugabe zur inhaltlichen Form.

Es stellt sich am Ende dennoch eine berechtigte Frage: An wen richtet sich die neue Übersetzung des „Beowulf“? Besonders schade ist es immerhin um das Fehlen des Originaltextes, denn die hervorragend zeitgemäße Übertragungsarbeit und das wohl durchdachte Textbild machen die Reclam-Ausgabe zu einer attraktiven Alternative zu den älteren deutschen Beowulf-Übersetzungen. Sprachwissenschaftler und des Englischen mächtige Literaturliebhaber werden wohl weiterhin auf eine zweisprachige oder direkt auf eine altenglisch-neuenglische Ausgabe zurückgreifen, in denen sich Originaltext und Übersetzung Zeile für Zeile gegenlesen und einzelne Ausdrücke so direkt vergleichen lassen.

Das Buch lädt dennoch durch den Beibehalt der literarischen Sprachgewalt des Originals bei gleichsam guter Lesbarkeit dazu ein, im Unterricht oder im eigenen Wohnzimmer den germanischen Helden aus der frühen Geschichte des Nordseeraumes neu oder erneut zu entdecken. Denn Johannes Frey ist nicht weniger gelungen, als das Epos zu dessen Ursprung als mündlich vorgetragene Literatur zurückzuführen. Er hat ein Klanggefüge geschaffen, von dem man sich immer wieder gern verführen lassen wird. Dieser neue singende klingende „Beowulf“ macht einfach Lust darauf, die Geschichte sich selbst oder anderen laut vorzulesen. Kurzum: Selten lag ein deutscher „Beowulf“ dem Leser besser auf der Zunge und dem Hörer im Ohr.

Titelbild

Beowulf. Das angelsächsische Heldenlied.
Übersetzt aus dem Altenglischen von Johannes Frey.
Reclam Verlag, Ditzingen 2013.
130 Seiten, 6,95 EUR.
ISBN-13: 9783150202432

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch