Erinnerte Fakten als Fiktion

Navid Kermanis „Große Liebe“ ist ein Roman über die erste Liebe und den politischen Alltag in Deutschland Anfang der 1980er-Jahre

Von Almut OetjenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Almut Oetjen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer kennt sie nicht, die Entwicklungsphase, in der ein junger Mensch nicht nur liebt, sondern gleichsam in der großen Liebesverwirrung ist, ähnlicher einem kranken Baby, das in der Krankheit ist, denn einem Erwachsenen, der Distanz zum Geschehen hat, weil er um das baldige Ende der Erkrankung weiß. Navid Kermanis Ich-Erzähler in seinem Roman „Große Liebe“ erinnert sich ohne Zynismus, doch mit gelegentlicher Ironie an diese Entwicklungsphase, die Pubertät.

Das „Ich“ erzählt in hundert Abschnitten, die für hundert Tage eines Tagebuchs der Erinnerung stehen, von seiner ersten Liebe. Die Tagesangaben von 1 bis 100 strukturieren die Erzählung, die Paginierung erfolgt nicht numerisch fortlaufend, sondern die Seitenzahlen entsprechen immer der Angabe für den jeweiligen Tag. Erzählt wird weitgehend linear, in wenigen Momenten wird den Erinnerungen vorausgegriffen, weil der Erzähler ordnende Vorgaben nicht einhalten zu können meint.

Das „Ich“ ist in der erinnerten Zeit, dem Frühjahr 1983, fünfzehn, seine Angebetete neunzehn Jahre alt. Der Titel des Romans mag ironisch gewertet werden, wie es auch der Stil mitunter ist, ironisch – aber liebevoll. Jedenfalls erinnert „Große Liebe“ an eine Novelle von Turgenjew, „Erste Liebe“, in der der Altersunterschied zwischen dem Jugendlichen (16) und der Geliebten (21) ähnlich groß ist.

Die Erinnerungen des Erzählers und seine Gedanken über die damaligen Ereignisse werden ergänzt um Zitate islamischer Mystiker über die Liebe. Zwei mystische Sphären kommentieren auf diese Weise einander implizit, die des Islam und die der Pubertät.

Das Nebeneinander suggeriert, Liebe sei ein Gefühl, das, sobald sich das kulturell imprägnierte Gehirn seiner bemächtigt, Konstruktionsmerkmale erhält, die es seiner Universalität berauben und ihm eine Ordnung geben, die es dem Trieb enthebt. Solchem Denken ist ein Mensch in der Pubertät nicht unbedingt zugänglich. Und ob ein dreißig Jahre älterer Erwachsener die Gefühlswelt eines Jugendlichen verstehen kann, sei in Zweifel gezogen. Jedenfalls versucht es der Ich-Erzähler dieses Romans, den man autobiografisch lesen könnte, weil der Erzähler und der Autor in manchen Daten übereinstimmen. Er sieht sein früheres Ich aus heutiger Perspektive deshalb auch nicht als „Ich“, sondern als „Er“, zweifelt auch mal an, dass die Erinnerungen, vor allem die sinnlichen, authentisch sind. Bisweilen gerät ihm die Gegenüberstellung des 15-Jährigen mit dem 45-Jährigen zu einer Herausforderung, die ihm zeigt, dass Ich-Identität auf der Zeitachse auch nur eine Behauptung ist.

Kermani gestaltet die pubertäre Selbstüberhöhung als eine mystische Erfahrung. Natürlich fließen Milch und Honig in diesem Land entgrenzter Gefühlsaufwallungen, die auch ihre lächerlichen und grotesken Momente haben. Das Ganze ist durchsetzt mit teils abgeschmackten Wortgebungen, die der Erzähler entsprechend kommentiert. So ist die Angebetete mit dem weniger anbetungswürdigen Namen Jutta beispielsweise eine Priesterin, die dem Pubertierenden Eingang in ihr Heiligstes gewähren könnte. Durchgehend ist Jutta allerdings, irdischer, „die Schönste des Schulhofes“, zeitweilig auch „die Schönste der Hausbesetzer“. Das Frühjahr der Liebe fällt in die Zeit der westdeutschen Friedensbewegung, des Nato-Doppelbeschlusses, der atomaren Aufrüstung, und eben der Hausbesetzungen. Zu den Elementen der privaten Matrix gehören Latzhosen und Birkenstocksandalen, Aldous Huxleys Essay „Die Pforten der Wahrnehmung“ und Svende Merians „Der Tod des Märchenprinzen“.

Ein wiederkehrender Handlungsort ist die Raucherecke auf dem Schulhof, die zugehörige Handlungszeit die Pause. In diese stürzt der 15-Jährige, um die Angebetete in Spuren wahrzunehmen, sie von hinten heimlich anzuschauen, bis daraus schon bald und für sehr kurze Zeit mehr wird. Sein hormoneller Turbolader gibt ihm, wie vermutlich jedem Menschen in dieser Entwicklungsphase, ein Gefühl, das als ultimativer Beleg der Einzigartigkeit genommen wird, wo es in der Rückschau und aus der Perspektive des erwachsenen und erfahrenen Umfelds nur um eine biochemische Steuerung geht, die einer universellen Norm folgt.

Was für eine schöne Zeit ist die, in der wir glauben, was uns der Mathematiklehrer erzählt: dass die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten die Strecke ist. Bis wir diesen Weg gehen und ständig auf unüberwindbar scheinende Hindernisse treffen. Der Erzähler scheitert bei allem Bemühen in seinen Erinnerungen daran, dass die Pubertät ein Phänomen ist, welches man als spezielle Form von Autismus definieren könnte. Sollte es in dieser Entwicklungsphase Momente des Magischen geben, dann unterscheiden diese sich vermutlich von der Magie, die wir ex post in diese Phase hineinzusehen geneigt sind. Vielleicht auch ein Grund, warum die erste Liebe zugleich auch eine große Liebe ist und im Verlauf des Lebens und damit der zunehmenden zeitlichen Entfernung sich dieser Status festigt. Der Ich-Erzähler stellt einmal fest, dass er sich in dem ein Drittel so alten Jugendlichen nicht wiedererkennt. Der Dialog, in den er bisweilen mit den Lesern tritt, hilft da auch nicht. Und wenn er schreibt, man solle durch die Nacherzählung dieser emotionalen Extremphase die Schönheit und die Kostbarkeit der Augenblicke nicht zerstören, so mag man ihm beruhigend erwidern: dies ist nicht möglich, weil immer von etwas anderem gesprochen wird.

Navid Kermanis Roman „Große Liebe“ ist ein schönes und verschachteltes Werk über Erinnerungen an eine frühe Zeit, in der die Hormone verrückt spielen, Erinnerungen in einer Zeit, bevor die Hormone auf andere Weise wieder anfangen verrückt zu spielen. Die Geschichte einer Liebe, die vom Zensor im eigenen Kopf mitgeschrieben wird, ohne dass die Eingriffsstellen bekannt wären. Je fremder dem Erzähler der Erinnerte wird, desto mehr Raum bleibt für den Mythos von der großen Liebe.

Titelbild

Navid Kermani: Große Liebe. Roman.
Carl Hanser Verlag, München 2014.
224 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-13: 9783446244740

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