Ein Solitär

Dominik Riedo hat sich in die Werkbiografie Wolf von Niebelschütz’ vertieft, dem Autor des „Blauen Kammerherrn“ und der „Kinder der Finsternis“

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gibt Bücher, die kennenzulernen nicht jeder das Vergnügen hat. Solitäre in der Bücherlawine, seltene Perlen, die in der Flut unterzugehen drohen, oder längst verschütt gegangen sind. Das Rheinland hat eine Reihe von ihnen zu bieten. Albert Vigoleis Thelen hat mit der „Insel des zweiten Gesichts“ eines von ihnen geschrieben, und der in Hösel bei Düsseldorf allzu früh verstorbene Wolf von Niebelschütz hat gleich zwei dieser Bücher zu verantworten, den „Blauen Kammerherrn“ von 1949 und die „Kinder der Finsternis“, die zehn Jahre später erschienen.

Verschlagen ins Rheinische hat den in Magdeburg geborenen Wolf von Niebelschütz der Journalismus und die kritische Distanz, die insbesondere sein Vater zum NS-Regime hatte. Die Eigentümer der „Magdeburgischen Zeitung“, die sich mit dem Regime nicht anlegen wollten, hatten aber immerhin Kreuz genug, die als unliebsam eingeschätzten adeligen Schreiberlinge in anderen Positionen unterzubringen. Wolf von Niebelschütz kam auf diese Weise zur „Rheinisch-Westfälischen Zeitung“ in Essen, für die er bis zu seiner Einberufung 1940 arbeitete. Er siedelte sich schließlich in Hösel bei Düsseldorf an und schrieb seine beiden literarischen Hauptwerke, den „Kammerherren“ und die „Kinder der Finsternis“.

Nachzulesen sind die biografischen Wege des Wolf von Niebelschütz in einer voluminösen Biografie, die Dominik Riedo im Peter Lang-Verlag veröffentlicht hat. Riedo ist, eingestandenermaßen, ein Fan des Autors Wolf von Niebelschütz, und nun, nach seiner jahrelangen Arbeit im Nachlass, wohl der beste Kenner seines Werks. Und, um es vorwegzunehmen, es war höchste Zeit, dass sich endlich jemand diese Mühe mit Wolf von Niebelschütz macht, dessen große Romane wohl immer noch zu den besten Texten der Nachkriegsjahre gehören. Vor allem der „Blaue Kammerherr“ hat zahlreiche Bewunderer gefunden, die in der Branche etwas gelten und die sich für Neuauflagen und Neubewertungen immer wieder eingesetzt haben. Literaturhistoriker hingegen fanden nur selten zu Wolf von Niebelschütz.

Sie stehen auch für die Majorität der Leser, denn offensichtlich haben Empfehlungen wenig genutzt, da Wolf von Niebelschütz den Rang als Geheimtipp nie überwunden hat. Andererseits wurden seine Hauptwerke seit ihrer Erstpublikation mehrfach neu aufgelegt und sind noch heute beim Verlag Kein & Aber, Zürich, lieferbar. Der Originalverlag der „Kinder der Finsternis“, Diederichs, der für das Thema wohl genau der richtige Ort war, konnte in drei Auflagen, von denen die dritte auch erst in den 1980er-Jahren erschien, doch etwa 20.000 Exemplare absetzen. Insgesamt werden es 50.000 oder 60.000 Exemplare sein, wenn man die Taschenbuchausgaben berücksichtigt.

Ähnliches lässt sich vom „Blauen Kammerherrn“ sagen, auch wenn die Erstauflage von 10.000 Exemplaren beim Verlag wie Blei lag. Dennoch folgten weitere Auflagen: 1961 publizierte Suhrkamp eine gekürzte Fassung als Hausbuch, 1972 und 1980 folgten weitere Auflagen, bevor sich dann andere Verlage kümmerten: Haffmans zuerst 1990, dann dtv 1998, bis dann auch dieser Titel bei Kein & Aber in Zürich landete.

So schlecht war der Verkauf der beiden Romane also nicht, aber ein Bestsellerautor war Niebelschütz höchstens insgeheim, und zum etablierten Schriftsteller, der seinen Lebensunterhalt und den seiner Familie mit der schönen Literatur, die er schrieb, bestreiten konnte, hat er es nicht gebracht. Das Gros des Werks – vor allem die Lyrikbände – erfuhr nur eine Auflage oder wurde erst gar nicht gedruckt. Wolf von Niebelschütz war mithin Zeit seines Lebens auf literarische Brotarbeit angewiesen: zu Beginn seiner Karriere auf die journalistische Tätigkeit, während des Kriegs in der Wehrmacht, in den ersten Nachkriegsjahren als Vortragsredner und gegen Ende auf industrielle Mäzene und seine Tätigkeit als Verfasser von Firmenschriften. Das ist selbst für einen Mann seines literarischen Formats kein Armutszeugnis, denn solche Arbeit schändet ihren Autor nicht. Aber es ist eben auch bezeichnend für den modernen Autor und seine wirtschaftliche Situation. Wer das je begonnen hat, wird wissen, was damit gemeint ist.

Nun ist Wolf von Niebelschütz’ relative Randständigkeit keine Überraschung, auch wenn die 1950er-Jahre, in denen seine Hauptwerke anzusiedeln sind, als literarische Restaurationsjahre einerseits und zugleich als Aufstiegsjahre der Gruppe 47 und damit der modernen deutschen Nachkriegsliteratur andererseits zu gelten haben. Die repräsentativen Autoren waren ein Rudolf Alexander Schröder, ein Werner Bergengruen, ein Reinhold Schneider – politisch und stilistisch konservative Autoren, oft mit konfessioneller Prägung. In dieser Reihe passt Wolf von Niebelschütz zwar, dessen Kunst- und Literaturkonzept von avantgardistischen Konzepten, oder auch nur von den Konzepten der Neuen Sachlichkeit vor der NS-Zeit oder der Gruppe 47 nach dem Ende des Krieges völlig unberührt war. Dichtung, nicht Literatur war sein Thema, und die Aufgabe der Kunst, den Menschen aus seiner Alltäglichkeit zu entheben und – wenn man das so noch sagen darf – zu erheben. Dennoch konnte Niebelschütz nie die Prominenz seiner konservativen Kollegen erreichen.

Die Distanz zur Gruppe 47 hingegen, die nach 1945 den Ausweg der Deutschen aus dem selbstverschuldeten literarischen Niedergang suchte, könnte hingegen größer nicht sein. Niebelschütz gehört weder konzeptionell noch biografisch auch nur in die Nähe der Gruppe 47, selbst wenn ihn Wolfgang Weyrauch 1949 noch in seiner Anthologie „Tausend Gramm“ als eine der lyrischen Hoffnungen der deutschen Literatur bezeichnete, was umso bemerkenswerter ist, als Weyrauch hier wohl zum ersten Mal die literarische Situation nach 1945 als „Kahlschlag“ bezeichnete und dafür unter anderem Gedichte Güner Eichs als Beispiele heranzog. Für einen Moment tauchte Niebelschütz also doch im Dunstkreis der Gruppe auf.

Aber Niebelschütz hatte eine völlig andere Idee von Kunst und ihrer Aufgabe als die Gruppe um Hans Werner Richter. Mehr noch, eigentlich gehört er gerade zu den kalligrafischen Autoren, die von der Gruppe 47 und ihren Fürsprechern, etwa dem Stichwortgeber Gustav Rene Hocke, vehement bekämpft wurden. Das war und blieb notwendig, wie nicht zuletzt Heinrich Böll in seinem „Bekenntnis zur Trümmerliteratur“ hervorhob. Aber dies zu vertreten heißt eben nicht, die Augen vor Romanen wie denen Wolf von Niebelschütz zu verschließen.

Zugleich stilisierte Wolf von Niebelschütz den Künstler zur extraordinären Gestalt, dessen Leben wenn nicht Vorlage, so doch Grund der Literatur, der Kunst war, die auf ihn zurückgeht. Das ist bei den Gedichten, wie Dominik Riedo in seiner umfänglichen Biografie zu berichten weiß, in besonderem Maße der Fall. Aber auch die Romane verdanken dem Lebenskonzept ihres Verfassers einiges, auch wenn sie ihm historisch und lebensweltlich sehr fern gestanden haben mögen. Sie sind mithin als Allegorien auf eine Gegenwart lesbar, in der ein Wolf von Niebelschütz ein Fremdkörper sein musste.

Mit anderen Worten: „Der baue Kammerherr“ und „Kinder der Finsternis“ sind Bücher von berückendem Anachronismus. Das eine spielt in einem Bühnenrokoko und amüsiert den Leser durch eine Welt, in der Zeus in der Gestalt eines blauen Kammerherrn um eine minderjährige Königstochter werben kann, auf die er am Ende – beinahe heroisch – verzichtet. Wer Zeus kennt, weiß, was das zu heißen hat.

Im anderen Buch geht es um nichts weniger als um die Möglichkeit einer gerechten Herrschaft in chaotischen, wenn nicht finsteren Zeiten. Ein Thema, das in den 1930er-Jahren immerhin Heinrich Mann an Henri IV abgearbeitet hatte. Ganz fernab der Welt und ihren Erfordernissen war also auch der zurückgezogen lebende, artifizielle Literat Wolf von Niebelschütz nicht.

Also nochmals: Anachronismus? Die beiden großen Romane Wolf von Niebelschütz’ bestätigen das, historisch, weil sie in ein imaginäres Rokoko und ein provenzalisches Mittelalter zurückverweisen, thematisch, weil sie den weisen und guten Herrscher zum Generalthema machen, und stilistisch, weil Wolf von Niebelschütz eine Schreibweise wählte, die sich ihren Themen anverwandelte und nicht ihnen aufgesetzt wurde.

Zwei Beispiele, die Anfangssätze aus den „Kindern der Finsternis“ und aus dem „Blauen Kammerherrn“, mögen dafür angeführt sein: „Es lag ein Bischof tot in einer Mur am Zederngebirge fünf Stunden schon unter strömenden Wolkenbrüchen.“ Und: „Die alten Götter waren tot, jene heiteren, deutlichen und liebenswerten Götter, die man so gern verehrt hatte, weil man wußte, auch in ihren Seelen wohnten der Regungen einige, die den Menschen zu einem Gott und den Gott zum Menschen machen.“

Es gibt Sätze, die so fremd und befremdlich sind, dass sie gelesen werden müssen und die auf Fortsetzung beharren: Wolf von Niebelschütz schrieb solche Sätze – zumindest fand er sie nach langem Suchen und ließ sie am Ende auch drucken, ein Verfahren von dem Dominik Riedo umfassend zu berichten weiß. Niebelschütz war ein akribischer und skrupulöser Stilist. Die Zeitungsarbeit hat ihn dazu gemacht, gerade weil sie den Dichter zum Kulturjournalisten machte, vermutet Riedo. Die Zeitung war eine harte Schule, die den konservativen jungen Autor zu einer hohen Produktivität zwang. Dass Wolf von Niebelschütz seine journalistischen Jahre im nationalsozialistischen Deutschland in der mitteldeutschen, dann westdeutschen Provinzpresse verlebte, hat ihn, was Themen und Positionen angeht, wohl doch deutlich geprägt. Was wiederum Fragen nach seiner Wehrmachtszeit und deren Wirkung provoziert.

Seit 1942 schrieb er an seinem Opus Magnum „Der blaue Kammerherr“, das dann 1949 beim neuen Suhrkamp-Verlag erschien. Der Roman entstand also während die deutsche Armee in Stalingrad den Krieg verlor, die alliierten Truppen auf deutsches Gebiet einrückten. Während der Judenvernichtung der Nazis und der Bombardements auf deutsche Städte schrieb Wolf von Niebelschütz eben nicht nur Durchhalteartikel, sondern eben auch an einem heiteren Roman. Ein Widerspruch, der sich nur dadurch lösen lässt, dass in der Literatur das ganz andere der profanen Lebenswelt gesucht und gefunden werden muss, für den Verfasser ebenso wie für den Leser.

Dominik Riedos Bericht von Leben und Werk Wolf von Niebelschütz’ geht offensichtlich auf ein intensives Studium des Autorennachlasses zurück. Damit geht er an eine Quelle, die über die Jahrzehnte von der Witwe des Autors, Ilse von Niebelschütz, intensiv gepflegt wurde. Ilse von Niebelschütz hat das Werk nach dem Tod ihres Mannes mit aller Macht in der Erinnerung der literarischen Öffentlichkeit zu halten versucht. Auf sie gehen die gesammelten Gedichte und Essays zurück, die posthum bei Diederichs erschienen, sie unterstützte die wenigen wissenschaftlichen Arbeiten zu Leben und Werk ihres Mannes intensiv.

Dass aber Wolf von Niebelschütz selbst wohl der bester Archivar seiner Werkbiografie war, bleibt in Riedos Arbeit nicht verborgen. Wolf von Niebelschütz führte intensiv Tagebuch und sammelte sämtliche eigenen Publikationen wie die Berichte, die über ihn und seine Werke erschienen. Die Manuskripte ließ er binden, so dass die Vorstufen der Romane etwa allesamt erhalten blieben. Der Nachlass scheint also so etwas wie der Wunschtraum des Biografen zu sein, wenngleich immer noch genug zu tun bleibt, selbst nach der mehr als 750 Nettoseiten starken Werkbiografie Riedos.

Riedo konzentriert sich allerdings vor allem auf das Werk von Niebelschütz, das er in relativ klar trennbare, aufeinander folgende Gruppen einteilt. Biografisch bleibt er zurückhaltend. Die Eckdaten und Rahmenbedingungen sind aufgearbeitet, das schwierige Verhältnis zum Vater intensiv genug beschrieben – dennoch hält Riedo genügend Distanz zum Autor, den er zwar zu bewundern, aber nicht anzuhimmeln scheint. Die Kindheit und Jugend sind relativ schnell abgehandelt. Nur ein schmales, spätes Kapitel informiert über den „Menschen“ Wolf von Niebelschütz, von seinen Alkohol- und Geldproblemen und den Schwierigkeiten seines Ehelebens. Die gehörige Distanz bleibt also immer gewahrt, Riedo suhlt sich nicht im Privatleben seines Autors. Er hält sich von der unter Biografen leider weit verbreiteten Küchenpsychologie fern genug, und vermeidet die damit gern verbreiteten haltlosen Spekulationen über die Motivationen und Anlässe, die Autoren zu ihrem Werk bewegen.

Das Hauptinteresse Riedos gilt dem Werk, seiner Entsehung und seiner Wirkung, was sich in relativ klar abgrenzbare Abschnitte trennen lässt: der journalistische Beginn bis 1940, die Wehrmachtjahre von 1940 bis 1945, die Vortragsjahre von 1945 bis Anfang der 1950er Jahre und die Firmenschriftjahre bis zum Tod. Die literarische Arbeiten, die Lyrikbände und die drei Romane, werden jeweils gesondert behandelt. Intensiv diskutiert Riedo Niebelschütz’ Verhältnis zum NS-Regime, das zwischen Distanz und Führerbewunderung zu schwanken scheint. Die Arbeit als Kulturredakteur deutscher Provinzzeitungen zwischen 1933 und 1940 zwingt ebenso zur Anpassung wie die für die Wehrmacht zwischen 1940 und 1945. Für die „Frankfurter Zeitung“ – immerhin eines der Schaustücke des Regimes, mit dem seine Liberalität demonstriert werden sollte – ist dies hinreichend vorgeführt worden.

Riedo gelingt es immerhin, Wolf von Niebelschütz’ Arbeiten differenziert zu beschreiben, ohne ihn für seine Anpassung in Schutz nehmen zu müssen. Wobei es Wolf von Niebelschütz nicht immer gelingt, die Grenze zwischen Anpassung und Willfährigkeit zu wahren. So finden sich antisemitische Texte, die ansonsten für die Weltanschauung des Autors unerheblich sind, ebenso wie Zeichen echter Führerbewunderung – dies allerdings in privaten Briefen, in denen solche Passagen eine besondere Funktion gehabt haben mögen.

Allerdings kann es auch gar nicht darum gehen, Wolf von Niebelschütz wegen seiner journalistischen und literarischen Arbeiten in Schutz zu nehmen. Seine Texte müssen das Dilemma aushalten, das mit dem historischen Zeitraum verbunden ist, in dem ihr Autor wirkte. Und selbstverständlich ist es interessant, wie Wolf von Niebelschütz sich als Journalist im Dritten Reich bewegte, wie seine Vorträge im besetzten Frankreich zu verstehen sind und in welchem Spannungsverhältnis sie zu den Beiträgen für Wehrmachtpublikationen stehen. Seine Vorträge im Nachkriegsdeutschland sind nicht minder aufschlussreich wie seine Firmenschriften. All diese Texte lassen eben nicht auf die je persönlichen Ansichten des Autors schließen. Sie geben eben auch exemplarische Einsichten in relevante Haltungen und Dispositive der 1930er- bis 1950er-Jahre, für die Wolf von Niebelschütz stehen kann. Insofern kann Riedos Biografie Anstoß für eine intensivere Auseinandersetzung mit Wolf von Niebelschütz und dem literarischen Feld geben, für das er steht. Ob sie etwas an der relativen Marginalität des Autors ändern wird, ist nicht anzunehmen. Dafür ist diese Arbeit selbst wieder zu randständig platziert, zu detailliert gearbeitet und zudem zu sehr auf die professionelle Rezeption aus. Man kanns halt nicht allen recht machen.

Titelbild

Dominik Riedo: Wolf von Niebelschütz. Leben und Werk. Eine Biographie.
Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 2014.
919 Seiten, 133,80 EUR.
ISBN-13: 9783034313469

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