Drinnen und draußen

In Saskia Hennig von Langes Novelle „Alles, was draußen ist“ fragt ein Mann angesichts des Todes nach dem, was bleibt

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man stelle sich ein Haus mit zwei Etagen vor. Dessen oberstes Geschoss wird zur Hälfte bewohnt von einem Mann, dem sein Arzt soeben eröffnet hat, dass er in Kürze unter fürchterlichen Schmerzen sterben wird. Trotzdem kümmert er sich weiter um ein anatomisches Museum, das ein Stockwerk unter ihm liegt, setzt sich täglich an die Kasse, hat die Rolle mit den abreißbaren Eintrittsbilletts neben sich liegen und wartet – meist vergeblich – auf interessierte Besucher. Ganz unten im Gebäude lebt schließlich noch die „Untendrunterwohnerin“, eine Frau mit enormer Ausstrahlung, welcher der Mann, der in Saskia Hennig von Langes Debütnovelle spricht, beständig ausgeliefert ist, ohne dass es je zwischen diesen beiden Personen zu einer Annäherung kommt.

Es ist mehr eine Versuchsanordnung als ein realistisches Szenario, was uns in Hennig von Langes Novelle „Alles, was draußen ist“ begegnet. Und trotzdem versteht es die Autorin, ihre Leser von der ersten Seite an hineinzuziehen in eine Meditation über Leben und Tod, Bewahren und Vergehen sowie die Spuren, die Menschen in der Welt hinterlassen. Das liegt zum einen an ihrer dichten, insistierenden Sprache, zum anderen an den Gegenständen, die das Denken eines Mannes umkreist, der erfahren hat, dass sein Lebensweg sich dem Ende nähert, und auf der Suche nach den Dingen ist, die unzerstörbar sind.

Bei dieser Expedition in sein Ich schleppt Saskia Hennig von Langes Protagonist zwei traumatische Erlebnisse mit sich herum. Zum einen ist es ein Satz der Mutter, der ihm seit Kindertagen nicht mehr aus dem Kopf geht. Er lautet: „Nein, du bleibst hier, bei mir, du gehst nicht nach draußen.“ Zum anderen ist es die Erinnerung an sich selbst als Abiturient und das Verhältnis zu einer Lehrerin, welches mit einer abgebrochenen Schwangerschaft endete. Zwei Versuche zu lieben, die scheiterten und den Mann letzten Endes zurückwarfen auf das eigene Ich und sein Anatomietheater, mit dessen Ausstellungsstücken er eine intensive Kommunikation darüber führt, was von uns bleibt, sobald der Tod uns aus allen lebendigen Zusammenhängen herausgerissen hat.

Denn irgendetwas muss ja bleiben, wenn sich die Stimme der Mutter noch Jahrzehnte, nachdem der bewusste Satz ihren Mund verlassen hat, in seinem Kopf wiederfindet, hin und her hallend und ihm ein Leben im Draußen nach wie vor unmöglich machend. Deshalb hat er selbst begonnen, zu präparieren, sich zuerst Tier-, dann Menschenschädel bringen lassen, in die er sich mit Skalpell, Hammer und Meißel hineinarbeitet, nachdem er vorher in alle Ohren den mütterlichen Satz geflüstert hat. Doch in keinem der vielen Innenohren, die er mühsam freilegt und nun in einer Extravitrine seines Museums zur Schau stellt, findet er auch nur eine Spur der gehauchten Worte wieder.

Deutlicher sprechen da schon die Exponate seines anatomischen Museums zu ihm, Maximilien de Robespierres Schädel etwa oder die „Schöne Beischläferin“, eine längs aufgeschnittene schwangere Frau mit ihrem ebenfalls nur noch als Körperhälfte vorhandenem Embryo, die „Unbekannte aus der Seine“ von 1900 oder „der lange Anton“ aus dem 17. Jahrhundert, dessen unnatürliche Größe wohl einst aus einem Hypophysentumor resultierte. Sie alle waren von Leben erfüllt und hinterließen Abdrücke in der Welt, worunter Hennig von Langes Dachkammernbewohner nicht nur die ihnen abgenommenen Totenmasken oder die à la Gunther von Hagens plastinierten Körperteile und Körper zählt, sondern auch ihre überlieferten oder nicht überlieferten Taten, ihre Leidenschaften, Erfolge und Niederlagen. Was von ihnen nach dem Tod geblieben ist, füllt nach wie vor einen Raum aus, nimmt Platz ein, ist wesentlich, verweist auf das, was die verbliebenen Formen vorzeiten umhüllte.

Und umgekehrt: Hat nicht die vergangene Schönheit jedes Äußeren zu ihrer Zeit schon Zeugnis abgelegt von dem Darunter? War nicht der Tod schon immer hinter dem Gesicht versteckt und hat auf sein Hervortreten gewartet? Und ist nicht jede Form von Kunst ein Festhalten von Zeitlichkeit für die, die danach kommen?

Hennig von Langes Text lässt seinen Protagonisten Fragen stellen, die die Menschen zu allen Zeiten bewegten. Wer bin ich, wohin gehe ich, wenn ich eines Tages nicht mehr bin, und was bleibt von mir? Um ihn am Ende als einen Schreibenden zu präsentieren, als Verfasser des Textes, den der Leser soeben gelesen hat. Und wie jeder Schreibende im Kopf sich einen Leser vorstellt, so denkt der Held dieser kleinen, aber gewichtigen Novelle zuletzt an die Untendrunterwohnerin als an seine Adressatin: „Das alles wird sie lesen. Nur eines wird sie nicht wissen können: Was ich jetzt denke, da ich den Stift schon lange beiseite und die Hände ruhig in den Schoß gelegt habe, und noch eines: was ich dachte, als ich einmal, es ist noch gar nicht so lange her, neben meiner Schönen Beischläferin stand, an der Hand sie: die Untendrunterwohnerin.“

Titelbild

Saskia Hennig von Lange: Alles, was draußen ist. Eine Novelle.
Jung und Jung Verlag, Salzburg 2013.
115 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783990270271

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch