Eine Chronologie des Verfalls

Über A. M. Homes’ Roman „Auf dass uns vergeben werde“

Von Sandra HeppenerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sandra Heppener

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am Anfang steht das Ende. Das Ende einer amerikanisch-jüdischen Familie in den 2010er-Jahren wird zu Romanbeginn mit großem Paukenschlag erzählt. Eine Katastrophe jagt die nächste, ein Unglück reiht sich an das andere. Im rasanten Tempo erzählt uns A.M. Homes den Verfall einer Familie und diagnostiziert damit gleichzeitig zynisch, schwarzhumorig, melancholisch, witzig, manchmal derb und nachdenklich die Gegenwart einer globalisierten, westlichen Konsum-Welt: „Da landet die ‚Ich-Generation‘ mal krachend auf dem Boden der Tatsachen.“

Im Gegensatz zu Thomas Manns „Buddenbrooks“ kehrt sich die Chronologie des Verfalls der Familien um das ungleiche Bruderpaar Harold und George um. Harold, Professor für Politik und besessener Nixon-Forscher, findet innerhalb eines Jahres zu sich selbst und erzählt uns pointiert die Suche nach seiner Identität und Familienzugehörigkeit. Dabei stellt er fest, dass es unterschiedliche Möglichkeiten gibt, eine Familie zu sein und sich von familialen Prägungen zu befreien. Doch bevor Harold – auch Harry genannt – zu seinen verschütteten Selbsterkenntnissen gelangt, wird der Bogen eines tragikomischen Roadmovies gespannt, welches Harold in der Ich-Perspektive zwischen zwei aufeinanderfolgenden Thanksgivings Revue passieren lässt. In seinem Rückblick beginnt er mit dem ersten Thanksgiving, welches Auslöser zahlreicher Katastrophen ist, und endet mit dem darauffolgenden Thanksgiving.

Harolds Affäre mit der Ehefrau seines Bruders George ist nur von kurzer Dauer. In der ersten gemeinsamen Nacht wird er von George in flagranti mit Jane ertappt. Georges Wut kennt keine Grenzen und seine Eifersucht führt direkt in eine Tragödie unbeschreiblichen Ausmaßes. Jane wird Opfer der gewalttätigen Attacken ihres Ehemanns – und Harold fühlt sich für die Gewalt, die Jane widerfährt, verantwortlich. Wenige Seiten vorher verursachte George noch einen Autounfall. Eine fremde Familie stirbt. Nur einer überlebt. Georges Eskapaden bringen ihn in die Psychiatrie und seine Ehefrau Jane ins Krankenhaus. Dort fällt sie ins Koma. Plötzlich muss Harold Verantwortung für die Familie seines Bruders übernehmen, was ihm zunächst unangenehm ist. Juristisch wird er Vormund für seine Nichte und seinen Neffen. Der 12-jährige Nathaniel, auch Nate genannt, und die 11-jährige Ashley werden von ihren Eltern zu Waisen gemacht. Harold zieht daraufhin erst einmal vorübergehend in das Haus seines Bruders George ein, um sich um Jane und die Kinder zu kümmern. Bald wird auch seine Ehe mit Claire geschieden, und er zieht ganz in das Haus seines Bruders ein; außerdem verliert er seinen Job an der Universität und erleidet selbst einen Schlaganfall. In dieser Zeit stirbt Jane. Harold organisiert ihre Beerdigung und kompensiert seine Trauer mit online ausgemachten Sex-Dates. Fand er zum Beginn dieses schrecklichen Jahres Janes Kinder nervend, wie sie immer abhängig und stumm von ihren Smartphones und iPads in Beschlag genommen waren, baut sich durch das familiäre Ground Zero langsam eine Hinwendung zu einem offeneren Umgang auf, der im Laufe des Jahres immer mehr Wärme und Herzlichkeit einfließen lässt. Eine Reise nach Südafrika, um Nates Bar-Mizwa zu feiern, festigt endgültig die zuerst zart geknüpften Bande zwischen Harold und den Familienmitgliedern, die ihm anvertraut wurden.

In Homes’ Roman entdecken wir, dass jedes Schlechte auch immer etwas Gutes haben kann. Auf der Metaebene des Romans knüpft Harold Beziehungen zur Nixon-Familie und darf unveröffentlichtes Prosamaterial von Richard Nixon bearbeiten. Vor der Folie dieses US-Präsidenten, besonders vor der Folie des Watergate-Skandals spiegelt sich Harolds eigene Identitätssuche, die charmant durch die fiktiven Prosatexte Richard Nixons eine Geschichte in der Geschichte bereithält. Harold findet zu längst vergessen geglaubten Kindheitserinnerungen zurück, und ermutigt sich, Altes und Belastendes loszulassen. Wenn er anfänglich seine Gefühle nicht zeigen kann oder für sich behält, lernt er über Nate und Ashley, seine Persönlichkeit mehr preiszugeben. Nach den Familienkatastrophen gründet Harold seine ganz eigene Familie, die auch als Patchwork-Familie bezeichnet werden kann. Sein medienfixierter Bruder George, der ihn bereits als Kind dominierte und ein völlig egomanes Auftreten an den Tag legt, wird im Verlauf von Harolds Geschichte immer schwächer. Endlich kann Harold werden, wer er ist. Die Hinterfragung seiner Herkunftsfamilie zeigt ihm, dass er zwar in doublebind-Manier behandelt wurde, einerseits ein Schwächling zu sein und andererseits Erwartungen nach Bestleistungen zu erzielen, die Schläge seines Bruders einzustecken und nichts zu sagen. Aber sie zeigt ihm auch, dass er nur wirklich dann schuldig ist, wenn er sich seiner Verantwortung entzieht und falsche Zuschreibungen von außen annimmt.

Kurzweilig verbindet Homes in ihrem Roman große gesellschaftliche Themen mit einem Bruderdrama. Religion, Demenz, Organspende, Gender, Rassismus, Adipositas, psychische Probleme, Homosexualität und zu viele Medikamente werden leichtfüßig innerhalb des Romans behandelt und erscheinen nur hier in ihrer Aufzählung als ein Zuviel. Der moderne Mensch spiegelt sich interkulturell scheinbar mehr oder weniger in einem dieser Bereiche. Die genannten gesellschaftlichen Bereiche werden besonders von Zuschreibungen aus den Medien geprägt. Die Realität wird für Harold im Roman durch Medien bestimmt, und medienbestimmte Realität hält uns von der Wirklichkeit mit unseren Mitmenschen fern, scheint uns der Roman sagen zu wollen. Gefühlskälte, Emotionslosigkeit und Brutalität verkehren sich kritisch-spannend zu ihrem Gegenteil und lassen uns erfahren, dass uns nicht immer die biologische Familie Halt gibt. Gelebte Fürsorge allen Mitmenschen gegenüber ist eine tröstliche Erfahrung, die uns Harold mit auf den Weg gibt. Am Ende sagt auch er: „Zum ersten Mal begreife ich, sosehr man sich Veränderung wünschen mag, man muss doch auch bereit sein, etwas zu riskieren, den freien Fall, das Scheitern, und man muss die Vergangenheit loslassen“.

Titelbild

A. M. Homes: Auf dass uns vergeben werde. Roman.
Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Ingo Herzke.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014.
672 Seiten, 22,99 EUR.
ISBN-13: 9783462046106

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch