Das Konzept „Raum“ und die Freude am Systematisieren

Über Susanne Raus Studie „Räume“

Von Martin LowskyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Lowsky

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was sind „sozial konstruierte Räume“? Susanne Rau erläutert das so: „Während wir vor 20 Jahren mit der Stadt Bologna vielleicht Spaghetti Bolognese, Tortellini oder Umberto Eco in Verbindung gebracht haben, denken wir heute – zumindest die meisten Akademiker und Studierenden – unweigerlich an den umstrittenen Bologna-Prozess der Hochschulreformen.“

Und was sind überhaupt Räume? Dies erklärt die Autorin abstrakt: „In einer ganz weiten Definition handelt es sich um soziale Objekte, die durch mindestens eine räumliche Dimension gekennzeichnet sind.“ Abstrakte Darlegungen und zugleich die Beispielfülle kennzeichnen Raus Studie. Sie liest sich gut, und sie ist mit einem detaillierten Register versehen.

Womit haben wir es hier zu tun? Die Raumforschung ist heute eine sehr weit gefasste Disziplin. Sie erstreckt sich von der Physik und der Mathematik bis zur Politik, von ontologischen Fragen (gibt es den leeren Raum?) bis zur Wissenschaft der Datenverarbeitung. Herausragende Ereignisse der jüngeren Zeit waren gewisse „Kehren“ in der Raumbetrachtung und -einschätzung – der „spatial turn“ um 1995, der in den Sozial- und Geschichtswissenschaften den Raum gegenüber der Zeit aufgewertet hat, und der „topographical turn“, der die Bindung des Wissenschaftlers an seine Lebens- und Forschungssituation entdeckt hat – und das Erscheinen des enzyklopädischen Handbuchs „Raum“ von Stephan Günzel im Jahr 2010 im Verlag Metzler.

Susanne Rau orientiert sich an diesen Hintergründen, doch ihr eigentliches Thema sind nicht allgemein „die Räume“ (auch wenn der Titel es vermuten lässt), sondern deren geschichtliche Entwicklung. Sie behandelt die „historische Raumforschung“ oder, anders gesagt, die Karriere des Begriffes Raum im Lauf der Epochen. Dabei stehen die Kulturwissenschaften im Mittelpunkt. Der Hauptteil des Buches besteht aus vier Kapiteln – sie besprechen die „Raumtypen“, die „Raumdynamiken“, die „Raumwahrnehmungen“ und die „Raumpraktiken“. Besonders spannend lesen sich die beiden mittleren Teile. Es geht dort um das Entstehen von Räumen durch sich wandelnde Städte, durch dichterische Imaginationen und Symbolisierungen, durch sich ändernden Gemeinschaftssinn und durch neue Handelsströme; und es geht um das Gegenteil, um sich auflösende Räume: Die bürgerlichen Salons des 18. Jahrhunderts gibt es nicht mehr, in Kalifornien sind Geisterstädte verblieben (Kapitel „Raumdynamiken“). Erörtert werden der kartografierte Sternenhimmel, die mental maps, die Erinnerungsräume und vieles mehr (Kapitel „Raumwahrnehmungen“). Sehr inhaltsreiche Begriffe kommen hier also ins Spiel, wobei immer auch die Opposition und das Ineinander von Subjekt und Welt untersucht werden. Einflussreich sind die Thesen des französischen Kulturphilosophen Michel de Certeau („L’Invention du quotidien“, 1980); von ihm ist der Satz: „Jede Erzählung ist ein Reisebericht.“

Originell sind Raus Darlegungen zu Raum und Zeit und ihrem natürlichen Gegensatz. Einen Weg im Raum kann man wieder zurückgehen, aber einen Zeitablauf kann man nicht umdrehen; woraus folgt, dass es eine Zeitlichkeit des Raumes, aber keine Räumlichkeit der Zeit gibt – wohl aber eine Räumlichkeit (oder Verräumlichung) von sozialen Prozessen.

Rau unternimmt auch Ausblicke in andere Wissenschaften. Sie kommt auf den mathematischen Raumbegriff zu sprechen sowie auf Gottfried Wilhelm Leibniz und Albert Einstein, die den Raum nicht „absolut“, sondern „relativistisch“ erfasst haben. Dass heute der mathematische Terminus „nicht-euklidischer Raum“ sogar in den Sozialwissenschaften benutzt wird – natürlich in einem metaphorischen Sinn –, zeigt uns den Einfluss des räumlich-geometrischen Denkens.

Fazit: Der Leser staunt über all die verblüffenden Charakterisierungen von Räumen und Raumvorstellungen, und er fragt sich, ob all dies eher Systematisierungsfreude und weniger Erkenntnisgewinn bedeutet. Doch auf jeden Fall werden einem die Augen geöffnet für ungeahnte Zusammenhänge – Zusammenhänge zwischen einander fern liegenden historischen Ereignissen, verschiedenen Disziplinen, sowie dem in der Welt Sichtbaren und nur Gewünschten oder Gedachten. Zitieren wir die zutreffenden, aber doch zu bescheidenen Worte der Autorin: „Meine Überzeugung ist: In der Regel werden wir mit Hilfe eines raumanalytischen Ansatzes ‚mehr sehen‘.“

Titelbild

Susanne Rau: Räume. Konzepte, Wahrnehmungen, Nutzungen.
Campus Verlag, Frankfurt 2013.
237 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783593398471

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