Urlaub total

Vom Rucksack-Globetrotter zum Ballermann-Pauschaltouristen: Die Unfähigkeit zur Erfahrung

Von Max BeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Max Beck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Urlaub hat man nicht, Urlaub macht man. Dass die Freizeitgestaltung zur Arbeit gehört, ist seit jeher erfolgreich verdrängt. Volkssport ist deshalb das ‚sinnvolle‘ Verbringen der Urlaubszeit. Je trister der Alltag, desto ‚aufregender‘ muss es sein. Wer was erleben möchte, bucht seit 1954 gerne in München: „Wir sehen unsere Aufgabe darin, im Sinne der Völkerverständigung Brücken zu schlagen über innere und äußere Grenzen hinweg. Das können wir nur zusammen mit unseren Kunden, die wir als Partner betrachten. Ihnen möchten wir die kulturelle Vielfalt in ihrer ständigen Veränderung und die natürliche Schönheit unserer Erde als für alle Menschen und deren Nachkommen erhaltenswerte Güter verständlich machen.“[1]

Diese „Unternehmensvision“, die den „Kunden“ zum „Partner“ in einer mit blumigen Sätzen beschriebenen Sache macht, könnte in ihrer modern ökologischen Ausrichtung wohl fast jedes „Unternehmensprofil“ schmücken. Diese stammt vom Münchner Reiseunternehmen „Studiosus“, dem Marktführer bei sogenannten Studien- und Bildungsreisen. Brücken schlagen und darüber gehen ist eine tolle Sache, das weiß man hierzulande spätestens seit „Karat“.

Auch das staatliche „Jugendbildungswerk“ der „Universitätsstadt Gießen“ kennt den Markt und veranstaltete 2013 einen „Bildungsurlaub Israel“: Dabei bekamen die interessierten jungen Leute „Einblicke in israelische wie auch palästinensische Lebenswelten und setzten sich mit den Hoffnungen und Befürchtungen der Menschen auseinander“. In Gießen weiß man seitdem, dass Geschichte etwas bloß Subjektives ist: „In den einzelnen Begegnungen wurde deutlich, dass die Suche nach einer objektiven Wahrheit vergebens ist. Vielmehr gilt es, die unterschiedlichen subjektiven Deutungen und Bedeutungen des Konflikts zu einem eigenen Standpunkt zusammenzufügen. Letztendlich festigt sich die Erkenntnis, dass auf beiden Seiten Menschen stehen, die in ihren Bedürfnissen, Sorgen, Wünschen und Biografien verstanden werden wollen und sich letztlich alle nach einem friedlichen Leben sehnen.“[2] Friede, Freude, Eierkuchen. Es hätte der „Erkenntnis“ nur gut getan, wäre diese Reisetruppe in Gießen geblieben.

Dass auf der Erde, dieser „natürliche[n] Schönheit“[3], wie es bei „Studiosus“ heißt, nicht alles très chic ist und Milch und Honig in so manchen Regionen nur am Hotelbuffet fließen, weiß auch der Bildungsreisende. Darum reist er bei Buchung in München achtfach gut: „Mit unseren Reisen wollen wir Vorbehalte, Vorurteile und Ablehnung gegenüber allem Fremden abbauen, das Miteinander der Menschen fördern und damit als Botschafter von Toleranz und Offenheit einen Beitrag zum Abbau von Fremdenfeindlichkeit und Diskriminierung auch im eigenen Land leisten.“[4]

Jene Bildungsreisende, die auf der Suche nach der beschworenen und in jedem Fall gutgeheißenen „Vielfalt“ sind, steht zu befürchten, sind besonders einfältig. Kann man sich vorstellen, wer auf so eine Reise geht? „Studiosus“ beschreibt sein Klientel wie folgt: „Gestern noch bis abends im Büro, heute schon Urlaub total.“ Totaler Urlaub, das klingt wie eine Warnung an alle in der Nähe, der bildungshungrigen Kundschaft möglichst fern zu bleiben. Dieses viel arbeitende Bildungsbürgertum hat sich mit der „Vielfalt“, die allzu oft von Menschen gemachtes Schlechtes meint, arrangiert und erkundet diese fleißig, um jede Abscheulichkeit mit einem ‚Interessant!‘ und ‚Aha!‘ zu einem leider notwendigen Kulturgut zu ernennen. Wieder daheim, labt man sich noch mit Fotoalbum und Diavortrag am „Vielfalt“-Mehrwert.

Dass ein Abend im nahen oder fernen „Haus der Begegnung“ kein Automatismus zur Abschaffung der geistigen Einfalt ist, geht im „Erlebnis“-Wahn verloren. Die Horden an mit Reiseführern bewaffneten Touristen, die von einer ‚Sehenswürdigkeit‘ zur nächsten hetzen und selbst davon durch ihre andauernde Betätigung des Fotoapparats nichts mitbekommen, machte schon immer den Eindruck des Maschinenhaften. Joseph Roth polemisierte bereits in den 1920er-Jahren gegen die positivistische Verewigung von Natur und Kultur im Reiseführer. 1832, mit dem ersten Erscheinen, kam die Natur „in den Baedeker. Aber was ich sehe, kam nicht in den Baedeker. Was ich sehe, ist das unerwartet plötzliche, ganz grundlose Auf- und Abschwingen einer Mückenschar um einen Baumstamm.“[5] 1968 lautet das Motto eines Reiseführers aus dem Hause „DuMont“ in Opposition dazu: „Man sieht nur, was man weiß!“[6]

Susanne Müller bezeichnet das Aufkommen des „Baedekers“ in ihrer Studie „Die Welt des Baedeker. Eine Medienkulturgeschichte des Reiseführers 1830-1945“ treffend als „Vorabend des Tourismus“[7]. Anders als die klassische bürgerliche Bildungsreise, die nur wenigen vorbehalten war, ist das Baedeker`sche „Reisehandbuch“ von Anfang an ein Massenprodukt.[8] Wirft man einen Blick in aktuelle Reiseführer, so fällt jedoch die Betonung des Individuellen auf. So produziert etwa der vermutlich hunderttausendfach gedruckte „Marco Polo“ ständig neue „Insider Tipps“, die dem Massentourismus die nicht vorhandene Individualität gleichsam zwanghaft andichten.

Am anderen Ende der Preis- sowie gefühlten chic-Skala bewegt sich der Pauschaltourist, der in seiner deutschen Variante am Liebsten zwischen Schinken- und Bierstraße mal so richtig die Sau raus lässt. Dieser legt keinen Wert auf andere „Kulturen“, sondern möchte gefälligst auf „Deutsch“ seine Currywurst mit Weißbier bestellen. Wer das Glück hatte, noch nie in die Nähe eines solchen Ortes zu kommen, bekommt in Gerhard Polts großartigem Film „Man spricht Deutsh“ (1988) Eindrücke von solchen Charakteren, deren Benehmen sich in den letzten zwanzig Jahren nicht substanziell geändert haben. Der ideelle deutsche Gesamtpauschaltourist trinkt bei Polt deutsches Bier, hört Bayern 3, beschwert sich über schlechtes Benehmen anderer – welches das projizierte eigene ist – und nennt sein Kind Heinz-Rüdiger.

Pauschaltourist und Bildungsreisender sind sich jedoch ähnlicher, als dem Einen wie dem Anderen beliebt. Sie sind unfähig zur Erfahrung. Der Bildungsreisende, der in seiner Freizeit-Erlebniswut ständig auf der Suche nach „Erfahrung“ und „Eindrücken“ ist, verbaut sich mit dem Erlebenwollen von „anderen Kulturen“ und „Bräuchen“ jene echte Erfahrung, auf die der Pauschaltourist gar keinen Anspruch erhebt. Offen für Erfahrung zu sein heißt nicht, den „Merian“ und „Baedeker“ auswendig zu können und das jeweilige Objekt der Sinnlichkeit mit dem darin Gelesenen zu besetzen. Für den Einen ist der Ort der Sehnsucht ein deutscher Parallelkosmos, für den Anderen ein multikulturelles Abenteuerland.

Erfahrung hieße jedoch wahrzunehmen, was im Vorhinein nicht schon kategorial bestimmt ist. Sich vom Objekt überwältigen lassen, zu sehen, was man nicht vorher gelesen hat und das Gesehene nicht mittels des Schlagwortes „Vielfalt“ zur Tatsache zu erheben. Erfahrung heißt, nicht zwanghaft Erfahrung machen wollen. In welcher Hölle will man lieber gebraten sein? Dass es keines Ausflugs in „ferne Kulturen“ bedarf, um etwas über die Welt zu erfahren, wusste Joseph Roth bereits 1921: „[D]ie Weitgereisten werden wissen, daß es im Grunde genügt, einen einzigen verborgenen Fliederbaum in einem verstaubten Großstadthof zu sehen, um die ganze tiefe Trauer aller verborgenen Fliederbäume der Welt zu verstehen.“[9]

Anmerkungen

[1] http://www.studiosus.com/Ueber-Studiosus/Unternehmensprofil/Die-Unternehmensvision

[2] http://www.jbw-giessen.de/index.php?id=83

[3] http://www.studiosus.com/Ueber-Studiosus/Unternehmensleitbild

[4] http://www.studiosus.com/Ueber-Studiosus/Unternehmensprofil/Die-Unternehmensvision

[5] Joseph Roth: Spaziergang. In: Ders.: Werke. 6 Bde. Band 1: Das journalistische Werk. 1915-1923. Herausgegeben von Klaus Westermann. Köln 1989, S. 564-567. Hier S. 566.

[6] http://www.dumontreise.de/magazin/ueber-den-dumont-reiseverlag.html

[7] Susanne Müller: Die Welt des Baedeker. Eine Medienkulturgeschichte des Reiseführers 1830-1945. Frankfurt/New York 2012, S. 12.

[8] Vgl. ebd., S. 26.

[9] Joseph Roth: Trübsal einer Straßenbahn. Stadtfeuilletons. Herausgegeben von Wiebke Porombka. Salzburg 2012, S. 102.

Titelbild

Susanne Müller: Die Welt des Baedeker. Eine Medienkulturgeschichte des Reiseführers 1830 - 1945.
Campus Verlag, Frankfurt, M. 2012.
354 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783593396156

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Titelbild

Gerhard Heck: Israel. MARCO POLO Reiseführer.
MAIRDUMONT, Ostfildern 2012.
136 Seiten, 11,99 EUR.
ISBN-13: 9783829724814

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Kein Bild

Joseph Roth: Trübsal einer Straßenbahn. Stadtfeuilletons.
Herausgegeben von Wiebke Porombka.
Jung und Jung Verlag, Salzburg 2012.
267 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783990270035

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Titelbild

Andrea Wurth: Israel, Palästina.
MAIRDUMONT, Ostfildern 2013.
484 Seiten, 24,99 EUR.
ISBN-13: 9783829713870

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