Komplexe Zeit- und Lebensgeschichte(n)

Ulrike Draesner gelingt mit „Sieben Sprünge vom Rand der Welt“ ein virtuoser Roman mit mehreren Erzählstimmen

Von Ulrike SchuffRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrike Schuff

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Was war, endet nicht.“ So lautet nicht etwa die psychologische oder philosophische Schlussfolgerung, die der Biologe und Verhaltensforscher Eustachius Grolmann – „Kriegskind“ und Flüchtling – aus seinen jahrzehntelangen Forschungsarbeiten zieht. Der passionierte Primatenforscher hält sich ganz an die physiologische Seite der Dinge, die „neurologische Geschichte“: „Endlich, nach Jahren, fand er die schützende Unfreiheit des Affen auch im Menschenkopf.“ Das behauptet Grolmanns Tochter Simone, ebenfalls Verhaltensforscherin, und eine von insgesamt neun Stimmen in Ulrike Draesners neuem Roman „Sieben Sprünge vom Rand der Welt“. Simone arbeitet sich ab an der Forschungsarbeit ihres berühmten und trotz seines Alters von 83 Jahren äußerst rührigen Vaters – und an seiner und ihrer Familiengeschichte, den Nachwirkungen der NS-Zeit, des Zweiten Weltkriegs und der Flucht aus Schlesien. Ihre Haltung ist eine ganz andere als die ihres Vaters, nicht nur in Bezug auf die Wissenschaft, sondern auch in Hinblick auf die Vergangenheit. Sie erkennt und fühlt, dass die traumatischen Erfahrungen von Eltern und Großeltern weiterwirken, tiefe Spuren auch in deren Kindern und Enkeln hinterlassen.

Gestützt wird diese Auffassung durch die inzwischen populären Ergebnisse des Projekts „Kriegskindheit“ an der Universität München. Die Studie des Psychoanalytikers und Facharztes für Psychotherapie Michael Ermann ergab, dass die „Kriegskinder“ viel häufiger unter Ängsten, Depressionen und psychosomatischen Beschwerden leiden als der Durchschnitt der Bevölkerung. In einem Interview erwähnt Ulrike Draesner auch die Journalistin Sabine Bode, deren Bücher zu den „Kriegskindern“ und „Kriegsenkeln“ weite Verbreitung gefunden haben.

Gleich zu Beginn hält die Theorie auch Einzug in den Roman. Simone hört im Radio ein Interview mit dem Psychologen Boris Nienalt, der sein neues Buch über „Hitlers Kinder“ vorstellt, die ihre „Spuren auch in den Psychen ihrer Söhne, Töchter und Enkel hinterlassen“ hätten. Simone und Boris lernen sich später kennen und werden ein Liebespaar. Boris ist eine weitere aus der Ich-Perspektive erzählende Figur in diesem vielstimmigen Roman, auch er ist das Kind eines Kriegskindes, Sohn der 1945 aus Ostpolen (der heutigen Ukraine) nach Schlesien vertriebenen Polin Halka. Diese erzählt ebenfalls ihre (Überlebens-)Geschichte im Roman, in dem sich somit zwei Fluchtlinien – die deutsche und die polnische – treffen, überkreuzen und spiegeln, so wie auch jede der Figuren durch die Perspektive der anderen gespiegelt wird.

Auf mehreren Ebenen und in wechselnden Perspektiven nähert sich die Autorin einer komplexen Zeit- und dramatischen Lebensgeschichte und auch ihrer eigenen Familiengeschichte, die die Vorlage für den Roman liefert. „Wir sind mehr. Bestehen aus einer Reihe von Menschen“, sagt sie dazu in einem NDR-Feature, in dem sie auch die dichterische Freiheit beim Schreiben betont, durch die es ihr gelang, die (realen) Figuren ein Stück aus diesem biografischen Kontext wegzurücken. Sowohl das Feature als auch eine Vielzahl von Quellen, Fotos und weiteren Informationen sind auf dem Weblog zum Roman zu finden.

Ungeheuer dicht und packend sind vor allem die Kapitel mit den Erzählungen der Eltern- und Großelterngeneration: Neben Eustachius und Halka sind das die Stimmen von Eustachius’ Eltern Lily und Hannes und seines während der Flucht verschollenen Bruders Emil. Hier zeigt sich die sprachliche Virtuosität der Erzählerin und Lyrikerin Ulrike Draesner. Diese Figuren und Schicksale berühren und trösten hinweg über den etwas theorielastigen und konstruiert wirkenden Anfang des Romans.

Titelbild

Ulrike Draesner: Sieben Sprünge vom Rand der Welt. Roman.
Luchterhand Literaturverlag, München 2014.
555 Seiten, 21,99 EUR.
ISBN-13: 9783630873725

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