Unterhaltsam und klug

Stefan Ripplingers Essay „Mary Pickfords Locken“

Von Martin SchönemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Schönemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Stefan Ripplingers Essay „Mary Pickfords Locken“ ist in der Reihe mit filmwissenschaftlichen Texten erschienen, die im Verbrecher Verlag herauskommt. Der Autor nennt sein Buch eine „Etüde über Bindung“, eine Spielerei also. Sicher wirkt es auf den ersten Blick verspielt oder gar exzentrisch, die Karriere der großen amerikanischen Schauspielerin Mary Pickford (1892-1979) an einem äußerlichen Detail wie ihrer Frisur festzumachen. Dass diese Karriere geendet haben soll, weil sich Pickford 1929 ihre Locken abschneiden ließ und nicht etwa wegen der Einführung des Tonfilms, diese These Ripplingers scheint auf den ersten Blick „an den Haaren herbeigezogen“.

Aber natürlich hat es einen Sinn, dass der Autor diese ungewöhnliche Betrachtungsweise wählt. Indem Ripplinger den Fokus auf ein nebensächliches, aber optisch eindrucksvolles Detail legt, kann er den Umschwung von Produktionskultur und Ästhetik in der amerikanischen Filmkunst der zwanziger Jahre für den Leser sichtbar machen. Jeder von uns kennt Menschen, die den frühen Film lieben, während er den meisten fremd bleibt. Worin dieses Faszinosum eigentlich besteht, das zeigt der Autor eben dadurch, dass er Mary Pickfords Locken in den Blick nimmt.

Die Wirkung von Pickfords Frisur, das kann der Autor an zahlreichen Beispielen demonstrieren, erschöpft sich nämlich nicht darin, Weiblichkeit zu signalisieren. Im Gegenteil: Diese Art von Locken sind zu dieser Zeit eigentlich aus der Mode. Sie erinnern eher an Rapunzel, an Fürstinnenfrisuren vergangener Epochen oder an adlige Kinderfrisuren, als dass sie Ausdruck einer zeitgemäßen Erotik sind. Erotisch wirken sie natürlich dennoch. Das Entscheidende ist aber, dass das Lockensymbol vielseitig einsetzbar ist. Ripplinger analysiert Filmszenen, in denen die Locken für Wildheit stehen, andere, in denen sie rebellisch wirken oder auch albern. Zu Zöpfen gebunden, markieren sie Kindlichkeit oder Bravheit, wild aufgeblasen symbolisieren sie Hysterie. Pickfords Haar ist, auch dort, wo es Erotik demonstriert, kein bloßer Fetisch, sondern ein vieldeutiges Symbol. Es wirkt gerade durch seine Künstlichkeit, seine Unechtheit (denn natürlich war das nicht Pickfords natürliches Haar).

Von diesen Beobachtungen ausgehend, erklärt Ripplinger, wie Pickfords Filme (und wahrscheinlich auch andere Filme dieser Epoche) funktionieren – als bewusst künstliches Spiel, das seine auch heute noch überzeugende Frische aus dem Understatement und der Spontanität seiner Inszenierung gewinnt, ganz im Gegensatz zum späteren Erzählkino mit seinen festen Handlungsstrukturen. Die Ungebundenheit ihrer Inszenierung geht einher mit einer Ungebundenheit der Figuren, insbesondere der jeweiligen, vom Star Pickford verkörperten Hauptfigur. Auch dies steht im Gegensatz zum Erzählkino: Anders als in der Kitschkultur späterer Hollywoodfilme geht es bei Pickford nicht um die ewige Liebe, sondern Partnerbeziehungen bleiben lose, leicht knüpfbar, leicht wieder zu lösen.

Ripplinger sieht hier eine Verbindung zum Zielpublikum der Filme, das er als bäuerlich-proletarisch, also subbürgerlich einschätzt und das dem bürgerlichen Liebesideal wenig abgewinnen kann. Dieses Publikum ordnet die individuelle Liebe anderen, zwingenderen Lebensinteressen unter oder muss dies tun: Seine Liebe bleibt leicht. Gleichzeitig hat diese Leichtigkeit aber auch mit den Produktionsbedingungen zu tun: Die Filme wurden in enger Zusammenarbeit durch ein kleines Team realisiert, so dass beispielsweise der spontane Einbau einer Rauf-Szene auf die Idee der Schauspieler hin immer möglich war.

Bewundernswert leicht ist auch Ripplingers Essay. Er verbindet eine spielerische, ja fast ästhetizistische Interpretation künstlerischer Aspekte gut marxistisch mit der Betrachtung von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, mit Produktions- und Rezeptionsästhetik. So hält er gekonnt die Balance zwischen Interpretationsspaß und solider Hintergrundinformation. Zum Beispiel erfährt der Leser ganz wie nebenbei, wie es bei Dreh eines solchen Stummfilms zuging oder bei der Gründung von „United Artists“. Dieser Bildungsaspekt, der ganz ohne Gelehrsamkeit auskommt, gehört zu den großen Vorzügen von „Mary Pickfords Locken“.

Leider schießt Ripplinger bei der Analyse der geliebten Filme manchmal etwas übers Ziel hinaus, da nämlich, wo er Erzählkino und bürgerliche Liebesidee als bloße Negativfolie von Kitsch und spießgier Kleinbürgerlichkeit darstellt, um Pickfords Filme noch mehr strahlen zu lassen. Dessen hätte es nicht bedurft. Es ist fraglich, ob die amerikanischen Unterhaltungsfilme seit den dreißiger Jahren tatsächlich so uncharmant sind. Fraglich ist auch, inwiefern die antibürgerliche Bindungslosigkeit, die Ripplinger propagiert, heute noch ein rebellisches Potential birgt – immerhin leben wir in einer Zeit, in der soziale Isolation ein wesentlich drängenderes gesellschaftliches Problem darstellt als konventionelle Ehe- und Familienstrukturen.

Diese kleinen Überspanntheiten schmälern aber keineswegs den Wert des Büchleins: Es verführt einen mit einer kühn erdachten These, diese frühen amerikanischen Filme einmal ganz aus sich selbst heraus, als Kunstwerke verstehen zu lernen. Es ist vergnüglich zu lesen, klug und informativ – eben so, wie Wissenschaft sein soll.

Titelbild

Stefan Ripplinger: Mary Pickfords Locken. Eine Etüde über Bindung.
Verbrecher Verlag, Berlin 2014.
96 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783943167825

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