Ein Fotoalbum der Vergangenheit

Zsófia Báns „Als nur die Tiere lebten“ erzählt vom Blick auf die Bilder der Vergangenheit und dem Gefühl der Leere in der Gegenwart

Von Christopher HeilRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christopher Heil

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Bevor es Menschen gab, als nur die Tiere lebten, sagte die dreijährige Anna, was bei ihr einfach nur ‚lange her‛ bedeutete, den gestrigen Tag mit einschloss.“ Von dieser Zeit handeln die 15 Erzählungen Zsófia Báns – von der Vergangenheit. Ob nun gestern oder vor langer Zeit, es gab jemanden, der bei einem war. Und jetzt ist da bloß noch eine Leerstelle. Die Protagonisten befinden sich an einem Zeitpunkt ihres Lebens, in der die Vergangenheitsarbeit beginnt und sie über Verluste und getroffene Entscheidungen nachdenken. Es findet ein Lavieren zwischen Gegenwart und Vergangenheit statt, ohne den Blick in die Zukunft zu richten. Es werden alte Bilder betrachtet und es wird tief in die Kiste voller Momentaufnahmen aus der vergangenen Zeit gegriffen.

Ganz programmatisch heißt es in „Kurze Geschichte der Fotografie“, dass das Bild „der Kaiser des Lebens“ ist, „es hat Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, eine Geschichte und ein Gedächtnis, mit einem Wort, es hat alles.“ In „Keep in touch“ werden zwei Formen verglichen, die Auskunft über die Vergangenheitsbewältigung liefern: „Während das Foto eine getane Trauerarbeit ist, ist der Film ein nicht verarbeiteter, offener Mangel, eine immer wieder aufreißende Wunde.“ Aber ist das tatsächlich so? Läuft den Figuren beim Betrachten der Fotos nicht auch ein Film im Inneren des Auges ab? Und ist Trauerarbeit jemals vollständig abgeschlossen? Die Erinnerungen der Protagonisten zeigen doch eigentlich an, dass Vergangenheit immer präsent ist, nur in unterschiedlichen Graden der Intensität.

Neben den individuellen Rückblicken wird auch immer wieder die ungarische Geschichte thematisiert. Die Mutter aus „Keep in touch“ bekam keine Luft, „sie haben sie ihr entzogen, jene, die statt Luft Gas für sie vorgesehen hatten.“ In der gleichen Erzählungen heißt es auch, dass der „Pester Oscarwilde missbilligend über den gelben Stern auf dem grauen Sakko sagte, die Disharmonie der Farben ist der Tod der Eleganz.“

Der Band übernimmt selbst die Funktion, 15 vor langer Zeit geschossene Bilder in einem Album aufzubewahren. Die Stärke von „Als nur die Tiere lebten“ steckt in den unterschiedlichen Tonlagen, in denen sich Erzählungen präsentieren, um letztlich in einem bedrückenden Moll auszuklingen. Geben sich Margó aus „Armani und die Liebe“ und die Taxifahrerin aus „Venus-Transit“ auf eine doch sympathisch schnoddrige und schroffe Art, geschieht dies lediglich, um einen Schutzpanzer vor die eigene Verletzlichkeit, Enttäuschung und Einsamkeit zu stellen.

In „Las Meninas“ wird zunächst ein kindlich-naiver Ton angeschlagen, um von einer Familiengeschichte und vor allem von deren Tiefen zu berichten. In Klammern werden immer wieder Tempus-Abweichungen oder Anmerkungen erwähnt, die unter anderem Hinweise über die Betrachtung des Damals aus dem Jetzt geben. Bewertungen und eine urteilende Distanz schreiben sich somit den Rückblicken ein. „Gift“ und auch „Fleisch“ – trotz der aggressiven Passagen – erzählen sehr empathisch und gefühlvoll vom Verlust geliebter Menschen und der Trennung. In „Drei Versuche mit Bartók“ wird eine ehemalige Konzertpianisten bei einem gemeinsamen Konzertbesuch mit ihrer Schwester Marcsi von der Vergangenheit eingeholt. Ein Pianist scheitert kläglich an „Musik für Streichinstrumente, Schlagzeug und Celesta“ von Béla Bartók – einem Stück, das eine Welle von Erinnerungen auslöst.

In den 15 Erzählungen von „Als nur die Tiere lebten“ kommt es neben den gleichen Motiven Vergangenheit und Erinnerungen, Trauer und Verlust mitunter zum Auftauchen wiederkehrender Figuren oder typischer Wendungen, wie die Bezeichnung „Meister“ für den eigenen Vater in „Las Meninas“ und „Imaginäres Eden“. Es lassen sich Verbindungen zwischen einzelnen Texten herstellen, um den Lebensverläufen der Katalin Karády, Marcsi, Margó oder der Fotografin Anna auf die Spur zu kommen. Notwendig ist das allerdings nicht, denn die Geschichten haben eine solche Strahlkraft, dass sie ganz für sich gelesen werden sollten: Jede Erzählung stellt ein traurig-schönes Foto im Album namens Vergangenheit dar.

Titelbild

Zsófia Bán: Als nur die Tiere lebten.
Übersetzt aus dem Ungarischen von Terézia Mora.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2014.
207 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783518424247

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