Bühne frei – oder im Ruhrgebiets-Deutsch: „Stück auf!“

Ein beachtliches Forum für sieben neue Stücke beim „Stück auf!“-Festival am Essener Grillo-Theater

Von Thomas StachelhausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Stachelhaus

Als Stiefkind-Gattung hat es die junge und frische Dramatik auf (traditionsreichen) Bühnen schwer. Aber nicht nur dort, sondern auch auf dem Buchmarkt: Nur wenige Theatertexte – insbesondere von Nachwuchsautor*innen – werden verlegt und schaffen es so in die Regale der Buchhandlungen, was wohl dem Umstand geschuldet ist, dass immer noch allgemeiner Konsens darüber herrscht, dass ein Stück für die Bühne und nicht genuin zum Lesen gemacht sei.

Es scheint, als trete das Essener Grillo-Theater dieser negativen Gemengelage nachhaltig entgegen. Denn bereits zum dritten Mal, und das ist, laut Intendant Christoph Tombeil, in der Ruhrgebietszeitrechnung schon eine Tradition, bietet das Haus bisher unbekannten Dramatiker*innen ein aufwändiges und auch kostspieliges Forum. Dies ist vor allem vor dem Hintergrund klammer kommunaler Kassen und einer dichten Theaterlandschaft im Ruhrgebiet bemerkenswert, nicht zuletzt auch, weil eine Auslobung von (neuen) Theatertexten im deutschsprachigen Raum nicht gerade als Alleinstellungsmerkmal gelten kann: Autorenpreise oder -förderungen gibt es viele, das Angebot an junger Dramatik ist groß, die Nachfrage eben begrenzt. Eine sorgenfreie Existenz als Schriftsteller*in ist demgemäß eher unwahrscheinlich, wie Wolfram Lotz, mehrmals prämierter (Nachwuchs-)Autor und diesjähriges Jurymitglied beim „Stück auf!“-Festival (25. und 26. April 2014), im Rahmen eines kleinen Gesprächs am Rande des Marathontages kritisch und nachdrücklich zu verstehen gibt.

Diese Rahmenbedingungen scheinen jedoch weder die Bereitschaft der Autorinnen und Autoren, ihrer Schreibleidenschaft nachzugehen, noch das Bedürfnis nach dem berühmten Lorbeerkranz zu hemmen, wie die Finalist*innen des dritten Jahrgangs auf unterschiedliche Art und Weise in kurzen Interviews vor den szenischen Darbietungen anmerken. Zum Glück, muss man sagen, denn das Theater braucht diese frischen und kritischen Stimmen, wenn es sich nicht nur als Konservendose und Reproduktionsmaschine längst kanonisierter, aber selten noch zeitgemäßer Stücke verstehen möchte. Das Grillo setzt hier ein deutliches Zeichen, macht es anders als die Nachbarstadt Mülheim, die jährlich beim berühmten „Stücke“-Festival renommierte Gegenwarts-Dramatiker in erfolgreichen deutschsprachigen Inszenierungen zu Wort kommen lässt, und auch anders als das Ministerium für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport des Landes NRW, das im Rahmen des NRW-Theatertreffens jährlich den Preis für die herausragendste Inszenierung (!) im Land Nordrhein-Westfalen stiftet. Bei letzterer Auslobung können eben auch längst kanonisierte Texte ausgezeichnet werden, denn der Fokus liegt dabei auf dem Performativen. Die Essener Bühne hingegen schenkt dem noch nicht zur Uraufführung gebrachten Textmaterial, das zum ausgerufenen Motto passen muss, die nötige Aufmerksamkeit und verzichtet zudem auf eine Altersbeschränkung für die Autorinnen und Autoren: Nachwuchsambitionen haben eben auch Dramatiker*innen höheren Alters.

In kleinen, aber aufwändigen szenischen Darbietungen mit eigenem Bühnenbild und Regiekonzept (möglich durch eine Kooperation des Essener Grillo-Theaters mit der Bühnenbildklasse der Kunstakademie Düsseldorf) erzählen die sieben Finalstücke, die in diesem Jahr das Motto „Grenzgänger“ umsetzen sollten und aus insgesamt 105 Einsendungen ausgewählt wurden, in intimer und zugleich intensiver Atmosphäre von Figuren, die Grenzen ausloten, Grenzen überschreiten, Grenzerfahrungen machen oder aber aus unterschiedlichsten Gründen ausgegrenzt – oder schlicht einsam – sind. Eigentlich aber, und dies eint die Figuren noch viel mehr, sind sie Suchende: Sie halten Ausschau nach ihrem ‚richtigen‘ Platz im Leben, ihrer Heimat, ihrer Bestimmung und versuchen der Alltäglichkeit zu entkommen (Uta Bierbaums „die schweizer krankheit.“). Sie begeben sich auf die Reise, um Unruhen, Verfolgungen und Repressionen entkommen zu können (Christian Maly-Mottas „Grenzgänger“, Jan-Christoph Hauschilds „O Tennenbaum“ und Henriette Dushes Bühnentext „Von der langen Reise auf einer heute überhaupt nicht mehr langen Strecke“), fahnden nach dem persönlichen Glück (Achim Stegmüllers „Drei Finger zum Glück“) oder ergründen ihre (gesellschaftliche) Funktion und ihre Bestimmung (Karin Strauß „Herr Metitsch“) und trachten nach Freiheit und Unabhängigkeit (u.a. Georg Münzel „Hiroshimaplatz“). Die Texte (er)schaffen Welten, in denen ein Ankommen schwer fällt, erzählen von Orten, an denen es für die Figuren keinen Platz gibt, fokussieren Charaktere, die sich der Realität entziehen und Parallelwelten erschaffen. Nur scheinbar alles alter Wein in neuen Schläuchen, denn die Texte sind hochaktuell, tragisch bis komisch, privat und doch gleichermaßen politisch. Gründe genug, den jungen Texten auf einem ebenfalls noch jungen, aber beachtlichen Festival Aufmerksamkeit zu schenken.

Der mit 5000 Euro dotierte Preis, verbunden mit einer Uraufführung in der nächsten Spielzeit, geht am Ende des Marathons übrigens an „Von der langen Reise auf einer heute überhaupt nicht mehr langen Strecke“ von Henriette Dushe. Ein Text, in der gleich fünf Frauen auf der Suche nach ihrer inneren und äußeren Heimat sind. Die Besprechung des Siegertextes finden Sie hier.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen