Das unlebbare Leben des Dichters Georg Trakl

In der Reihe „Leben in Bildern“ ist eine neue Trakl-Biografie von Gunnar Decker erschienen

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Frontispiz dieser Trakl-Biografie kann man ein Foto des 28-jährigen Dichters vom Mai 1914 betrachten (fünf Monate später ist er an einer Überdosis Kokain in der Psychiatrie des Krakower Garnisonsspitals verstorben): Es zeigt einen bürgerlich gekleideten jungen Mann in einem Lehnstuhl sitzend, die Arme locker auf die Stuhllehne gelegt, die Hände gefaltet. Nichts deutet auf etwas Außergewöhnliches hin, wenn da nicht der auf den Betrachter gerichtete Blick wäre, so eindringlich bohrend, dass man ihn auf die Dauer nicht ertragen kann. Der Mund ist geschlossen, aber leicht spöttisch aufgeworfen. Doch von einer Selbstzerstörung, mit der das Leben und Dichtertum Trakls auf unheilvolle Weise verknüpft war, ist hier nichts zu sehen. Ein ereignisloses, freud- und erfolgloses Leben zwischen Salzburg, Wien und Innsbruck war Trakl beschieden, so dass Stephan Hermlin im Nachwort zur Trakl-Ausgabe bei Reclam 1975 schreiben konnte: „Es war nicht lebbar“. Aber wenig weiß die Nachwelt von diesem Leben. Die Familie hat alles vernichtet, was für sie kompromittierend sein könnte: Trakls Liebe zur Schwester Grete, seine Drogen- und Alkoholsucht, seine Exzesse und Halluzinationen.

Doch dem Trakl-Biografen Gunnar Decker, Autor von Schriftsteller- und Künstlerbiografien (erst vor zwei Jahren ist von ihm eine Hermann-Hesse-Biografie erschienen) und Redakteur der Zeitschrift „Theater der Zeit“, stand eine vorzügliche historisch-kritische Werk-Ausgabe, die Innsbrucker Ausgabe, zur Verfügung. Er hat neben den erhalten gebliebenen Selbstzeugnissen Trakls auch Urteile von Zeitgenossen einbezogen, er hat eine umfangreiche Sekundärliteratur zu diesem neben Georg Heym wohl wichtigsten expressionistischen Lyriker gesichtet, so dass er nun eine gut recherchierte, mit vielen neuen Erkenntnissen aufwartende, auch sprachlich gediegene Biografie vorlegen kann.

Decker beginnt seinen biografischen Essay mit Trakls zwölftägiger Venedig-Reise im Sommer 1913, der „ersten und einzigen großen Reise seines Lebens“, so Decker. „Nach Venedig hinunter“ wollte Trakl fallen. „Immer weiter – zu den Sternen“, hatte er mitgeteilt, und sein Gedicht „In Venedig“ beschreibt dann auch weniger die Lagunenstadt, sondern seinen eigenen Zustand: Verfall und Untergang. Das war Trakls Transitsituation – „zu den Sternen“, und sein Venedig ist ein inneres Erlebnis.

Dann beschreibt Decker das Leben des Dichters, das, so sein Urteil, nur das „Unmaß“ kannte, „zuviel Lebensgier und zuviel Lebensschau“: dass er zusammen mit 6 Geschwistern in großbürgerlichen Verhältnissen in Salzburg aufgewachsen ist, dass ihm Privatunterricht im Französischen die Lektüre von Baudelaire, Rimbaud und Mallarmé erlaubte, dass die Liebe zur jüngsten Schwester Grete schwere Schuldgefühle verursachte, die seine Einsamkeit vertieften, dass er, abhängig von Alkohol und Drogen, immer unfähiger wurde, mit dem Alltag fertig zu werden. Durch schnell abgebrochene, aber ebenso oft erneuerte Versuche, als Apotheker zu arbeiten, hat er um Stabilisierung seiner sozialen Situation gerungen. Im August 1914 wurde Trakl, der drei Jahre zuvor als Einjährig-Freijähriger bei einer Sanitätsabteilung seinen Militärdienst geleistet hatte, als Medikamentenakzessist eingezogen und rückte Ende August mit einer Sanitätskolonne an die Front nach Galizien. Nach der Schlacht bei Grodek musste er in einer Scheune, ohne helfen zu können, 90 Schwerverletzte betreuen. Trakl brach zusammen und wurde zur Beobachtung seines Geisteszustandes in ein Spital gebracht und starb am 3. November.

Trakl hat sich immer wieder gefragt, warum ihn das Leben „nicht besser verwertet“. Das Gefühl der Nutz- und Rechtfertigungslosigkeit der eigenen Existenz erzeugt bei ihm tiefe Depressionen, Verödung, innere Leere, Langeweile und – als Folge – das Bedürfnis, sich zu berauschen, um die lähmende Frage nach dem Sinn des Lebens zu verdrängen und die künstlerische Arbeit erst wieder zu ermöglichen. Die Verzweiflungen schlagen um in die Sucht, der Welt ihre Hässlichkeit ins Gesicht zu schreien. Oder, wie Decker es formuliert, Trakl will „nicht bewusst anwesend sein in der verhassten Wirklichkeit“.

Trakls Gedichte, so Decker, sind Teil seines Lebens, aber auch Teil einer Gegenwelt: „Die eigene Wort-Wirklichkeit ist damit auch immer forcierte Anti-Biographie“. Ja, Trakl hatte Vorbilder – dass „eigentlich nichts neu“ sei in Trakls Lyrik, dürfte doch etwas zu gewagt sein – , aber er „verwandelt schreibend Fremdes, das er aufnimmt, in Eigenes mittels einer Technik, die in der modernen Dichtung des 20. Jahrhunderts […] noch eine besondere Wirkung zur Steigerung der visionären Kraft erzielen wird: der Übermalung.“ Anknüpfend an literarische Traditionen, schuf er eine ganz eigene Sprach- und Bildwelt. Ohne Rücksicht auf Logik und Kausalität reiht er ganz persönliche Bilder und Lieblingswörter aneinander oder verflicht sie miteinander. Trakl hat das selbst als ein traumhaftes Sprechen gekennzeichnet, so wenn er eine Gedichtfolge „Sebastian im Traum“ nannte.

Die Verknüpfung von Erfüllung, kosmischer Harmonie, erlösendem Untergang und anspringender Todesangst in Trakls Gedichten findet in „Der Herbst des Einsamen“ (1913) eine prägnante Form. In der Reihung suggestiver Bilder verbindet sich die Weite eines Gesanges mit der Intensität des gefühlten Schmerzes, für den es weder Heilung noch Linderung gibt, zu einem Ton, der in der deutschen Lyrik des 20. Jahrhunderts seinesgleichen sucht.

Als ein hervorragendes Beispiel für das chiffrierte Sprechen Trakls gilt das Gedicht „De profundis“. Es ist laut Walter Killy, einem der besten Trakl-Kenner, aus tiefster Not geschrieben. Da ist ein Baum, der steht einsam, ein Stoppelfeld, ein Zischelwind, der um die leeren Behausungen geht. Nichts gehört mehr zusammen, alles fällt auseinander. Eine unschuldige, verlassene Gestalt – eine „Waise“ – war in dieser Landschaft, die noch Hoffnung hegte. Aber auch sie konnte nicht bestehen, sie „verwest im Dornenbusch“. Der Mensch, das lyrische Ich, ist nicht mehr er selbst, sondern nur ein Schatten. Seine Stirn gleicht „kaltem Metall“, Spinnen suchen sein Herz. Er findet sich in der Nacht, ganz allein, „starrend von Unrat und Staub der Sterne“, und selbst die Stimmen der „kristallnen Engel“ sind nur noch scheinbar tröstlich, wenn auch an ihrem Namen der ganze Sturz des Menschen deutlich wird.

So unzweifelhaft wie das Gedicht „De profundis“ ist auch die von der Welt abgelöste Welt der Chiffren und Klänge, sie steht, so Killy, unter ihren eigenen Bedingungen, leiht sich das Leben von den alten Worten und spielt ein neues Spiel damit. Die Chiffre (etwa Nacht, Dunkel, Abend, Sterne und Engel) ist also das Zeichen für eine vom Dichter zutiefst empfundene Sprachnot, die ihn anstelle von abgenutzten alltagssprachlichen Formulierungen zu einer Verrätselung des zu Sagenden greifen lässt, das sich bewusst dem Verständnis verschließen soll. Trakl verfremdet die Sprache und sprachlichen Bilder, reißt sie aus dem gewohnten Zusammenhang und lässt sie in ungewohnten Kontexten und Kombinationen erscheinen, um so das ganz Andere seines Erlebens oder seiner Wirklichkeitswahrnehmung vernehmbar zu machen.

Mit Georg Heym, der ebenso früh starb wie Trakl, also noch bevor der Ruf zum expressionistischen Aufbruch sich künstlerisch konkretisieren konnte, teilt Trakl die traumhafte Qualität seiner Reihungstechnik. Doch dem gigantischen, zum apokalyptischen Mythos hindrängenden Bildvorrat Heyms steht bei Trakl – Decker geht auf eine vergleichende Betrachtung der beiden Frühexpressionisten nicht ein – die fast fanatische Introspektion gegenüber. Seine Bildlichkeit verbindet Religiöses mit einer geradezu psychoanalytischen Durchdringung des Vorgangs. Die Einflüsse Sigmund Freuds und der erwachenden Psychologie der Moderne sind bei Trakl evident. Wäre er nicht in seiner Triebverfallenheit von einem katholischen Marienkult besessen gewesen, so konstatiert Decker, dann „hätte das Geschwister-Verhältnis nicht solch dämonische, zerstörerische Züge annehmen müssen“.

Dem Freund und Mäzen Ludwig von Ficker hat Trakl mitgeteilt, dass sich im November 1913 „so furchtbare Dinge ereignet“ hätten, „dass ich deren Schatten mein Lebtag nicht mehr loswerden kann“. Seine Schwester Grete hatte eine Fehlgeburt, doch es gibt keine Beweise, dass der Bruder der Vater dieses Kindes war. Decker verweist aber auf die letzte Zeile im „Kaspar Hauser Lied“ (postum veröffentlicht in der Sammlung „Sebastian im Traum“): „Silbern sank des Ungebornen Haupt hin“ und stellt dazu seine Vermutungen an. Aber das Gefühl, von seinem eigenen Mörder verfolgt zu werden, der er zuletzt selbst war, kommt auch in zwei Selbstporträts Trakls vom November 1913, im Stil der österreichischen Expressionisten R. Gerstl und H. Boeckl gemalt, zum Ausdruck: Ein maskenhaftes, teuflisches Antlitz starrt uns an, der blanke Wahnsinn lodert aus den Augen.„Verfall“ und „Untergang“, die Trakl bisher als etwas eher Stilles in der Natur und seinen Träumen empfunden hatte, wurden durch seine Erfahrung des Weltkrieges jetzt zur überwältigenden äußeren Realität. In seinem letzten Gedicht „Grodek“ beschreibt er eine vom Tode gezeichnete Landschaft, ein Schlachtfeld, über der ein „zürnender Gott“ wohnt. In den Waffenklang mischt sich die Klage sterbender Krieger. An die Stelle des roten Sonnenballs ist der weiße, kalte Mond getreten. Mit „Alle Straßen münden schwarze Verwesung“ schließt sich dieses Bild einer Kriegslandschaft. Es ist ein Ort, durch den der Schatten der Schwester wie ein Todesengel schwankt und über die Toten, die blutenden Häupter, klagt. Wenn am Ende von den „ungebornen Enkeln“ die Rede ist, dann könnten das die Enkel sein, die entweder durch den Tod der Krieger nicht mehr geboren werden oder die später zu ähnlichem Los berufen sein werden wie die Sterbenden hier. Die Schlussgebärde bringt also zwei entgegen gesetzte Bewegungen in Koinzidenz – die Vergeblichkeit und den Fortgang. Trakl stimmt hier ein Klagelied angesichts einer aus den Fugen geratenen Welt an, die nur ihren trostlosen Zustand im Krieg besonders deutlich hervorkehrt.

Deckers profunde, mit vielen Abbildungen versehene Darstellung wird den mit dem Werk Trakls Vertrauten wie Unvertrauten in gleicher Weise Gewinn und Nachdenklichkeit vermitteln.

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Gunnar Decker: Georg Trakl.
Deutscher Kunstverlag, Berlin 2014.
95 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783422071773

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