Von Walter Benjamin zur „Roten Hilde“

Uwe-Karsten Heye bringt eine ganz andere Geschichte einer „deutschen Familie“ ans Licht

Von Herbert JaumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Herbert Jaumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Oktober 1951 wurde der Nervenarzt Dr. Leu in Köln von der Anklage der Beteiligung an Euthanasiemorden freigesprochen. Das Landgericht war der Ansicht, der Arzt habe „die Taten aus ‚Idealismus‘ begangen. Das sei nicht zuletzt in der Fürsorglichkeit zum Ausdruck gekommen, mit der er sich um die ‚Beschaffung der zur Bestattung der Euthanasieopfer erforderlichen Särge bemühte.‘“ Dieses immer wieder zitierte Beispiel für das für alle Zeit empörende Versagen der westdeutschen Justiz, einer von zahllosen Fällen bis heute, findet man auch in der Geschichte einer „deutschen Familie“ des politischen Journalisten Uwe-Karsten Heye. Er ist als Regierungssprecher unter Gerhard Schröder in Erinnerung sowie seither als ein Politiker der SPD, der unter anderem entschieden für die Verfolgung rechtsradikaler Gesetzesbrecher eingetreten ist, wo andere sich lieber auf die Wiederholung unheilvoll klingender Formeln beschränkten.

Die „Abneigung der Justiz der Bundesrepublik“, die Nazi-Mörder und Schreibtischtäter konsequent zu verfolgen und zu bestrafen, und ihre weitaus strengere Verfolgung durch die Justiz der DDR nach 1949 ist eines der Hauptthemen seines Buches: „Insgesamt wurden in der DDR auf 100.000 Bewohner doppelt so viele Personen wegen NS-Mordtaten verurteilt wie in der Bundesrepublik.“ Neben benachbarten Themen wie Adenauers Restauration, die schweigend hingenommene Unterwanderung der wichtigen Ministerien und Verwaltungen wie auch der liberalen Presse – auch der „Zeit“ und des „Spiegel“ in den 50er-Jahren – mit ehemaligen Beamten und Handlangern des „Dritten Reiches“ dürfte es zu den hauptsächlichen Motiven gehört haben, aus denen das Buch entstanden ist.

Man kann froh sein, dass Heye seiner journalistischen Neigung zu thematischen Assoziationsketten und seitenlangen Exkursen, zu assoziativen Erweiterungen seiner obendrein beständig wiederholten Vorhaltungen und Predigten über die dunklen Seiten der deutschen Geschichte seit dem Ende des Kaiserreichs, also über den eigentlichen Gegenstand seines Buches hinaus, nicht noch weiter nachgegeben und auch noch die vielen anderen, aktuelleren Problemfelder heraufbeschworen hat, auf denen deutsche Politik, Verwaltung, Geheimdienste und Justiz – um nur diese zu nennen – ebenfalls versagt haben und weiter versagen. Man kann das Meiste kaum in Abrede stellen, kann es aber, etwas sorgfältiger formuliert, auch anderswo lesen und hat es schon oft zur Kenntnis genommen. Gewiss, man ist auch dankbar für die eine oder andere gedankliche Anregung oder Instruktion. Aber wer zu einem Buch über die Familie der Benjamins greift, das erste in seiner Art und daher eine Pionierleistung, ein in der Tat überfälliges Buch, hat doch eher andere Gründe, und so hält sich die Dankbarkeit in Grenzen.

Der eigentliche Gegenstand ist die Geschichte der Familie seit der Epoche, die Walter Benjamin in den Erinnerungen an die „Berliner Kindheit um 1900“, für die sich der Gattungstitel „Prosaminiaturen“ eingebürgert hat, aus einer äußerst privaten Perspektive beschrieben hat. Theodor W. Adorno hat sie posthum bereits 1950 als eines der ersten Bücher des neuen Verlags von Peter Suhrkamp herausgegeben,[1] und Heye nutzt sie im Eingang zu seinem „Prolog“ im 1. Kapitel und kommt immer wieder darauf zurück. Es ist der einzige Text Walter Benjamins, der in diesem Buch eine größere Rolle spielt, und dabei ist auch kurz von den großbürgerlichen Eltern Pauline, geborene Schönflies, und Emil die Rede, dem wohlhabenden Antiquitätenhändler im Berliner Grunewald, der ersten Generation der Berliner Benjamins, von der hier erzählt wird. Im übrigen ist das Buch ein Kompensationsunternehmen, eine Art Wiedergutmachung an den anderen Mitgliedern der Familie, die vor allem in der Literatur über Walter Benjamin (1892-1940), über den es die monumentale und detailgenaue Biografie (noch?) nicht gibt, sich bestenfalls nur kurz erwähnt finden.

In erster Linie sind das die beiden Geschwister, der jüngere Bruder Georg (1895-1942) und die Schwester Dora (1901-1946) sowie Georgs Nachkommen: die Ehefrau und Witwe Hilde Benjamin (1902-1989), 1953-1967 Justizministerin der DDR, ihr einziger Sohn Michael (Mischa, 1932-2000), zu DDR-Zeiten Professor an der justizpolitisch einflussreichen „Akademie für Staat und Recht“ in Potsdam und nach 1990, neben der Nachwuchskraft Sahra Wagenknecht, führende Stimme der „Kommunistischen Plattform“ in der PDS, seine Frau Ursula, Bekannte von Lotte Ulbricht und Verwalterin des Familienarchivs, ihr Sohn Georg (Grischa), der in Kiew arbeitet, und seine Kinder Jakob und Laura, bereits die Urenkel von Walter, Georg und Dora – also die Geschichte einer deutsch-jüdischen Familie über fünf Generationen in fünf „Deutschländern“, das Kaiserreich bis 1918 gar nicht mitgezählt: nach der Weimarer Republik das „Dritte Reich“, BRD und DDR und seit der Vereinigung die zweite Republik, das „fünfte Deutschland“ seit der Vereinigung. Im Zentrum des Buches werden die Biografien von Walters Geschwistern Dora und Georg sowie von Hilde Benjamin und dem Sohn Michael ausführlich betrachtet – oder besser dokumentiert –, wenn auch stets nur sozusagen ‚Leben und Schicksale‘ sowie die Bedeutung für Um- und Nachwelt, während man über die Charaktere über wohlmeinende und moralische Allgemeinheiten hinaus sehr wenig erfährt. Aber Hauptthema und Rechtfertigung ist von Anfang bis Ende, und in den langen Exkursen allemal, die deutsche Geschichte, deren katastrophischer Verlauf feststeht, seit 1990 immerhin mit eher offenem Ausgang. Hinzu kommt, dass es Heye immer auch um sein eigenes historisch-politisches Bekenntnis zu gehen scheint, für dessen ausführliche Exemplifizierung ihm die Geschichte der Benjamins offenbar gerade recht war. Auch deshalb sind problematisierende Interpretationen seine Sache an keiner Stelle, und auch die Frage, „wofür“ die Geschichte dieser Familie steht, wird eigentlich nur gestellt, um sie sofort und immer wieder gleich eindeutig zu beantworten. Die Versenkung in einzelne Charaktere oder Schriften oder gar ungelöste Probleme hätten da nur gestört.

Kapitel 3 ist Dora Benjamin gewidmet, die an der Berliner Universität, einem Zentrum der Frauenstudien seit der Jahrhundertwende, und in Jena Nationalökonomie studierte und 1924 in Greifswald mit der staatswissenschaftlichen Dissertation über „Die soziale Lage der Berliner Konfektionsarbeiterinnen mit besonderer Berücksichtigung der Kinderaufzucht“ promoviert wurde. Sie war dann in Berlin an verschiedenen Einrichtungen tätig, führte diverse Enqueten und Forschungen durch und publizierte viele Studien zu brisanten sozialen Problemen wie Heimarbeit, Alkoholismus und Kinderarbeit (für sie „eine Kulturschande“), wandte sich dabei immer stärker psychologischen und pädagogischen Fragen zu und stand dem Bruder Georg, der seit 1925 als Stadtschularzt in Berlin-Wedding arbeitete, auch in ihren Themen und sozialpolitischen Vorstellungen nahe, ohne aber selbst in die KPD einzutreten. 1918 hatte sie im Frauengymnasium mit der ein Jahr jüngeren Hilde Lange aus Steglitz Freundschaft geschlossen, der späteren Ehefrau des Bruders, „die aus einer bürgerlich-protestantischen Familie kam“, wie man in der grundlegenden Arbeit von Eva Schöck-Quinteros lesen kann.[2]

Sie musste 1933 nach Frankreich emigrieren, wohnt in Paris eine Zeitlang mit dem älteren Bruder Walter in einer kleinen Mietwohnung, hält sich nach 1940 in Südfrankreich auf und wartet vergeblich auf ein Visum für die USA. Im Dezember 1942 gelingt es ihr, bei Genf zu Fuß in die Schweiz zu fliehen, und sie hat Glück, nicht von den „Emmenthaler Faschisten“ (Tucholsky) zurückgeschickt („ausgeschafft“) und den Verfolgern ausgeliefert zu werden, wie es so häufig geschehen ist. Sie wird in Lagern interniert und kann erst allmählich, als „Privatinternierte“, in Sicherheit leben. Die seit den Pariser Jahren an der Bechterewschen Krankheit, einem chronischen Rheumatismus der Wirbelsäule, Leidende arbeitet nach 1945 als Dozentin in Seminaren von Hilfsorganisationen und stirbt im folgenden Jahr an Krebs. Wieder wird nichts aus ihrem Plan, in die USA zu gehen: „Leider ist Frau Dr. Benjamin an unheilbarem Krebs erkrankt und dürfte nur noch wenige Monate zu leben haben“, heißt es in einer Erklärung des „International Rescue and Relief Committee, Sektion Schweiz“. Daher habe man „keinen Antrag auf Visumserteilung gestellt. Frau Dr. Benjamin selbst möchte gern nach Amerika, sodass man ihr gesagt hat, alles Erforderliche wird in die Wege geleitet. Die Patientin weiss nicht, wie ernst ihr Zustand ist und hofft immer noch auf Heilung, die, wie die Ärzte sagen, nur durch ein Wunder erfolgen könnte. Daher bitten wir Sie, die amerikanischen Freunde von Frau Dr. Benjamin zu informieren, diese nicht etwa durch eine Unvorsichtigkeit aus ihrer Illusion zu reissen.“[3]

Dass Dora nie Parteikommunistin geworden ist und sogar – entschiedener offenbar als Bruder Walter – in die USA gehen wollte, rückt sie natürlich dann doch von Bruder Georg wie auch von der späteren Kommunistin und Justizministerin Hilde und deren Nachkommenschaft – und damit auch vom Wertezentrum der Familiengeschichte, wie sie von Heye gewichtet wird – ein ganzes Stück weg. Natürlich ohne dass es gesagt wird, ist ihre Geschichte dafür einfach nicht ergiebig genug. Das dürfte auch erklären, dass Heye es bei dem einen Kapitel über sie belässt, in dem er sich ohnehin im wesentlichen an die ausgezeichnete Arbeit von Schöck-Quinteros hält. Deren Aufsatz wird ein paar Mal beiläufig erwähnt, Heye ist kein Plagiator, aber er zitiert nachlässig oder gar nicht und hat die Quelle nicht einmal ins Literaturverzeichnis aufgenommen, so dass der Verlag offenbar genötigt war, nachträglich einen Zettel mit den vollständigen Angaben in die Buchexemplare einzukleben – das krasseste Beispiel für den durchgehend unsorgfältigen Umgang mit den Quellen in diesem Buch, das keinerlei Zitatnachweise und keine Anmerkungen kennt. Deshalb wundert man sich auch über die Existenz einer Lektorin, der auf der letzten Seite gedankt wird: wohl für ihre vornehme Zurückhaltung, oder dafür, daß sie Schlimmeres verhüten half.

Die Darstellungen von Hilde Benjamin und ihrem Mann Georg in den Kapiteln 6 und 7 bilden die Grundlage für alles Weitere wie besonders auch für die politische Botschaft des Buches und deren Gegenwartsbezug, die in der einen oder anderen Weise dessen ganze zweite Hälfte ausfüllt. Hilde, geborene Lange, studiert Jura in Berlin, Heidelberg und Hamburg, wird Mitglied der SPD und heiratet 1926 in Berlin den Arzt Georg Benjamin, Dr. med., den Bruder ihrer Freundin Dora. Er ist Parteikommunist und Abgeordneter im Arbeiterbezirk Wedding, wo er als Kinderarzt tätig ist, und sie selbst tritt 1927 in die KPD ein und arbeitet als Lehrerin an der Marxistischen Abendschule und als Anwältin für die „Rote Hilfe“, u. a. verteidigte sie mit Erfolg eine Beklagte im spektakulären Mordfall Horst Wessel. Ihr Mann arbeitet nach 1933 im Widerstand, verliert wie seine Frau die berufliche Approbation und wird mehrmals verhaftet, ehe er 1942 im KZ Mauthausen ermordet wird.

Die folgenden Kapitel handeln dann von den Generationen der Benjamins in der DDR: dem einzigen Sohn Michael und seiner Familie und den Nachkommen bis heute. Hilde Benjamin, deren „Ariernachweis“ auch ihrem Sohn das Leben rettete, wird eine kommunistische Politikerin der ersten Stunde in Berlin noch vor Gründung der DDR, führt als leitende Richterin in den 50er-Jahren zahlreiche Prozesse gegen Nazis, vor allem auch gegen Nazi-Juristen, mit grausamer Unnachsichtigkeit und zählt als „Blut-Hilde“ und „rote Guillotine“ in der Presse und Propaganda des Westens bis in die 60er-Jahre und dem Wechsel zu Honecker neben Ulbricht selbst zu den meistgehassten Repräsentanten des „DDR-Unrechtsstaates“: „Für die ehemaligen Nazis in den Medien der Bundesrepublik war Hilde Benjamin eine willkommene Projektionsfläche“. Es ist ein bedenkenswerter, glücklicher Einfall, in Kapitel 12 („Deutsch-deutsche Spiegelungen“) die einsame Leistung des hessischen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer, Emigrant und seit 1949 wieder im Justizdienst, mit der DDR-Justiz zu konfrontieren. Ohne ihn hätte weder ein Eichmann- (1961/62 in Jerusalem) noch ein Auschwitz-Prozess (1963-65 in Frankfurt/Main) stattgefunden.

Aber warum eigentlich muss man, wenn man an der Familie der Benjamins interessiert ist, so detailliert und weitläufig über Dora, Georg und Hilde und sogar ihre Nachkommen informiert sein? Nur um die weißen Flecken aufzufüllen, die auch mit Walters eigenem Zutun in den biografischen Arbeiten über ihn zu finden und zu bedauern sind?[4]Aber eine nur kompensatorische Funktion kann es doch nicht sein, gerade wenn man die fast hagiografische Hervorhebung von Hilde Benjamin in diesem Buch betrachtet. Ohne dass dies jemals angedeutet oder gar explizit formuliert würde, liegt dieser Familiengeschichte vielmehr eine Antithese zugrunde, die, einfach gesagt, gegen die Kanonisierung Walter Benjamins als Symbolgestalt einer Partei-fernen Linken gerichtet ist, eine Rolle, die er sicher nicht angestrebt hat, für die sich jedoch in seinen Schriften und Briefen viele Anhaltspunkte und Argumente finden.[5] Wohl kaum wird Walter Benjamin damit erneut in einen Richtungsstreit der Linken zwischen Parteikommunisten, ihren Kritikern, abseits stehenden Intellektuellen und anderen hineingezogen werden, wie das in der Zeit der intensivsten Benjamin-Exegese in den 70er-Jahren etwa in der Berliner Zeitschrift alternative (1964-1982: herausgegeben von Hildegard Brenner) und in den Auseinandersetzungen um die Suhrkamp-Edition gelegentlich der Fall war. Eine kaum bekannte briefliche Äußerung seiner Schwägerin gegenüber dem Biografen Werner Fuld aus dieser Zeit gibt Einblick in die Sichtweise der Familie in der DDR: „Meine Einschätzung der Entwicklung Walter Benjamins ist die“, schreibt Hilde Benjamin im August 1976, „daß er mit vielen Umwegen und Irrwegen auf dem Weg zum Marxismus und Sozialismus war, ein Weg, der von der westdeutschen Walter-Benjamin-Literatur weitgehend – mit wenigen Ausnahmen – bewusst verwirrt wird.“[6] In der heutigen Situation dürfte kein Platz für eine erneute Debatte darüber sein (und natürlich auch kein Bedarf). Dem Autor Heye und seinen Freunden aber schien es offenbar an der Zeit, für die vom Bruder Georg ausgehende KPD-Linie der Benjamins die gebührende politische und moralische Größe zu beanspruchen, wenn man schon mit dem literarisch-philosophischen Format des unantastbaren Vorfahren nicht nur nicht mithalten konnte, sondern damit wenig oder nichts zu tun hatte („Irrwege“ waren das für Hilde und die Ihren), – und anders hätte Heye wohl kaum den großzügig gewährten Zugang zu dem von Ursula, der Witwe Michael Benjamins, gehüteten Familienarchiv erhalten, von dessen Dokumenten er so ausgiebig Gebrauch machen konnte.

Dass er sich nicht scheut, dabei seiten- und kapitelweise die alte KPD- und DDR-Apologetik wieder aufzutischen, macht sein Buch auch ärgerlich: angesichts der epochalen Blamage, die schon lange vor Erfindung der DDR und deren Sozialismusversuch, nämlich schon seit dem Stalinismus der späten 30er-Jahre und dem Hitler-Stalin-Pakt absehbar war, jedenfalls für Marxisten, die bei Trost waren, und für dem Marxismus nahestehende Intellektuelle, die sich von der Partei fernhielten – wie eben Walter Benjamin –, aber nicht befangen in einem „Irrtum“, sondern mit Bedacht. Doch wir wollen der Versuchung nicht nachgeben, die ganze Topik dieser überständigen Apologie für den „Gott, der keiner war“ hier noch einmal aufzurufen und zu kommentieren, was ohne Satire und sarkastische Polemik auch gar nicht mehr möglich wäre.

Ein Sozialismusversuch unter dem Schutz und im Namen einer Russifizierung und Sowjetisierung eines Teils von Deutschland war von vornherein absurd. Seine Realisierung und Existenz wurde von sowjetischen Panzern garantiert und von der Staatssicherheit kontrolliert. Das hat selbst Michael Benjamin – im Nachhinein – für einen Grundirrtum gehalten, mit Zustimmung des Autors: „Das MfS überwachte die Gesinnungslage des Landes, was zur Deformierung der DDR beitrug und sie schließlich zerstörte“. Hinzu kam der Charakter der DDR als Kühlschrank altdeutscher Normen und bis ins Mark autoritärer Verkehrsformen sowie obendrein, aber keineswegs als eine Äußerlichkeit, sondern höchst symptomatisch für das ganze Gesellschaftsmodell, der sagenhaft schlechte Geschmack in allen Lebensbereichen. „Utopie DDR“ (so Heye allen Ernstes) und „Wiedervorlage“ einer reformierten Ausgabe davon? Doch lieber nicht. Obwohl diesem Volk, den „lieben Deutschen“ (Goethe), nicht zu trauen ist, die 1932 und 1933 in Kenntnis dessen, was bevorstand, Hitler in den Reichstagswahlen vom Juli und November 1932 zweimal mit einfacher Mehrheit gewählt und dann die „Machtergreifung“ bejubelt haben und aus deren Mitte heute viel Zustimmung zu dem Autokraten Putin kommt, in Kenntnis der Untaten, für die er und sein Unrechtsregime stehen, dessen gleichgeschaltete Justiz Oppositionelle in den Kerker wirft und nebenher alle paar Jahre einen kritischen Journalisten ermorden lässt. Deshalb scheint es besonders für Jüngere viel sinnvoller, sich zu fragen, in welche Richtung man das Land verlassen kann, wenn es wieder einmal soweit ist. Auch dies ist eine Lehre aus der Geschichte der Benjamins.

Anmerkungen:

[1] Eine Edition der verschiedenen Manuskriptfassungen der „Berliner Kindheit“ von 1932-34, 1938: Fassung letzter Hand und Fragmente aus früheren Fassungen, wurde herausgegeben von Rolf Tiedemann, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1987. Eine noch später aufgefundene sogenannte „Gießener Fassung“ aus der frühesten Entstehungszeit um 1932 ist ebenda im Jahr 2000 erschienen, mit historischen Fotografien, weiteren Dokumenten aus Benjamins Nachlass und einem Nachwort ebenfalls von Rolf Tiedemann herausgegeben.

[2] Eva Schöck-Quinteros: Dora Benjamin: „… denn ich hoffe, nach dem Krieg in Amerika arbeiten zu können“. Stationen einer vertriebenen Wissenschaftlerin (1901-1946). In: Barrieren und Karrieren. Die Anfänge des Frauenstudiums in Deutschland. Beiträge zur Konferenz an der Universität Bremen im Februar 1997. Druck herausgegeben von Elisabeth Dickmann und E. Schöck-Quinteros, 2. Aufl. Berlin: Trafo-Verlag Weist 2002, S. 71-102. Nachzulesen auch im Bremer Online-Journal „bonjour.Geschichte“ unter: http://www.bonjour-geschichte.de/?=865#more-865.

[3] Zitiert bei Schöck-Quinteros 2002 auf der letzten Seite ihres Aufsatzes, der Nachweis dort in Anm. 123.

[4] In der Tat finden sich dort nur sehr wenige Angaben, was auch für die noch immer einzige regelrechte Biografie gilt: Werner Fuld: Walter Benjamin. Zwischen den Stühlen. Eine Biographie, Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1981 (zuerst München: Hanser 1979). Fuld erwähnt auch die merkwürdige Geheimniskrämerei Benjamins in Bezug auf Mitglieder seiner Familie (S. 24). Am meisten findet man in dem biografisch besonders wertvollen Katalog, der auf eine Ausstellung von 1990 im Deutschen Literaturarchiv in Marbach am Neckar und im Literaturhaus Berlin zurückgeht: Walter Benjamin 1892-1940, bearbeitet von Rolf Tiedemann, Christoph Gödde und Henri Lonitz, in: Marbacher Magazin 55 (Deutsche Schillergesellschaft Marbach 1990). An weniger bekannten Publikationen mit bedeutsamen biografischen Anteilen und reichem Bildmaterial sind zu nennen: Für Walter Benjamin. Dokumente, Essays und ein Entwurf (über Dani Karavans Gedenkort „Passagen“ in Portbou), herausgegeben von Ingrid und Konrad Scheurmann, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1992; Hans Puttnies / Gary Smith: Benjaminiana. Eine biographische Recherche, Giessen: Anabas-Verlag 1991 (Werkbund-Archiv, 22); Momme Brodersen: Spinne im eigenen Netz. Walter Benjamin. Leben und Werk, Bühl-Moss: Elster-Verlag 1990.

[5] Auch für die Frage seines politischen Standorts noch immer lesenswert Jürgen Habermas: Bewußtmachende oder rettende Kritik – die Aktualität Walter Benjamins, in: Zur Aktualität Walter Bejamins. Aus Anlaß des 80. Geburtstags herausgegeben von Siegfried Unseld, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1972, S. 173-223.

[6] Werner Fuld: Walter Benjamin (1981), wie Fn. 4, S. 249. Brief vom 9. 8. 1976 an den Autor.

Titelbild

Uwe-Karsten Heye: Die Benjamins. Eine deutsche Familie.
Aufbau Verlag, Berlin 2014.
361 Seiten, 22,99 EUR.
ISBN-13: 9783351035624

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