Die Frage, wer wir sind?

Deutschlandbilder als Selbstbilder in Kathrina Grabbes Studie „Deutschland – Image und Imaginäres“

Von Stephan KrauseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Krause

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Katharina Grabbes Untersuchung „Deutschland – Image und Imaginäres“ fragt danach, wie das heutige Deutschland imaginiert wird und sich selbst darstellt und wie auf dieser Grundlage ein ‚Wir‘ (nach 1989/90 gar ein neues) entsteht. Grabbes Analysen gehen dabei grundsätzlich von der Unterscheidung zwischen den beiden im Titel benannten begrifflichen Konzepten aus. Das Imaginäre wird verstanden als „Dynamik, in der sich ein Ich oder Wir bildet“. Ein Image enthalte Vorstellungen, die an Stereotype angelehnt seien, welche (für eine bestimmte Wirkung) zudem vorausgesetzt würden. In einem den Analysen vorangestellten Kapitel differenziert Grabbe ihre beiden zentralen Begriffskonzepte ausführlich und zeigt deren theoretisches Woher auf. Mit diesen Grundlagen, die auch das argumentative Rüstzeug der Studie sind, arbeitet Grabbe ihre Aussagen an insgesamt sechs differenten Beispielen heraus.

Zunächst geht es anhand der Fußballfilme „Das Wunder von Bern“ und „Deutschland, ein Sommermärchen“ um den medialen, national-mentalen und eher massenkulturellen Prozess des ‚Nation Branding‘ den Grabbe auch mit dem sogenannten „Wirtschaftswunder“ kontextualisiert. Als zweiten Gegenstand betrachtet sie Ingo Schulzes großen Roman „Neue Leben“, an dem sie die in Wenden verlaufende und durch Wenden charakterisierte Erzählstrategie interessiert. Das dritte Beispiel entstammt wiederum dem Kino. Grabbe nimmt Beckers „Good Bye, Lenin!“ im Zusammenhang mit den Stichworten ‚Ostalgie‘ und Nostalgie in den Blick. Wer hier allerdings einen Querverweis auf die Nostalgie in Wortmanns „Das Wunder von Bern“ vermutet, wird enttäuscht. Hätte die Anwendung dieses Begriffes nicht auch dort ihre Berechtigung und ihren analytischen Zugewinn gebracht? Umso mehr, als sich damit die Frage nach den Perspektiven auf West- und auf Ostdeutschland ergeben hätte? Zudem bliebe zu überlegen, ob nicht zumindest der kursorische Einbezug des reichhaltigen deutschen Filmschaffens sinnvoll gewesen wäre, um die Aussagen über die fraglos detailliert behandelten Filme weitergehend zu kontextualisieren. Angeboten hätten sich hier beispielsweise – auch dies nur eine Auswahl aus der Fülle – „Deutschland 09“ oder eine Dokumentation wie „Kennzeichen Kohl“ oder auch der Spielfilm „Berlin is in Germany“. Das nächste Kapitel behandelt „Deutschlandreisen“. Der Begriff des Imaginären wird von Grabbe hier auf eine weitere Weise angewendet, indem sie nach den durch die Reisebeschreibungen quasi produzierten ‚mental maps‘ fragt und aufzeigt, in welcher Weise gerade derartige deskriptiv daherkommende Texte nachhaltig an der Produktion einer (bildlichen) Vorstellung von Deutschland beteiligt sind. Es folgt „Die Berliner Republik und Preußen“, in dessen Mittelpunkt Kehlmanns „Die Vermessung der Welt“ steht. Grabbe stellt in ihrer Untersuchung eine Verbindung zwischen diesem Roman und den Debatten um den Neubau des Berliner Stadtschlosses her. Ihr Schlusskapitel widmet sich dem Roman „Heimsuchung“ von Jenny Erpenbeck, den Grabbe als literarisches Zeugnis von Vergangenheitsbewältigung liest und an dem sie die Imagination von gemeinschaftlichem Erinnern herausstellt und die konstitutive Funktion von Erinnerungsbildern aufweisen will.

Insgesamt zeigt Grabbe, „dass Literatur und Film an dem Wir mitwirken“, das sie unter dem Eigennamen und Stichwort Deutschland zusammenfasst. Anzumerken bliebe, dass gerade die thematische Eigenständigkeit der sechs Hauptkapitel mit dem Charakter von Fallstudien eine weitaus stärkere Zusammenbindung hätte erfahren können, als dies durch die theoretische Klammer der Begriffskonzepte erreicht wird. Denn gerade die Frage nach diskursiven Interdependenzen und Interferenzen zwischen den Einzelbeispielen hätte der Untersuchung zusätzliche Attraktivität verliehen. Der Charme von Grabbes Studie besteht nämlich in der Auswahl der unterschiedlichen Untersuchungsgegenstände, anhand derer die Autorin ihre Fragestellung exemplarisch und für das jeweilige Beispiel umfassend bearbeitet.

Titelbild

Katharina Grabbe: Deutschland - Image und Imaginäres. zur Dynamik der nationalen Identifizierung nach 1990.
De Gruyter, Berlin 2014.
287 Seiten, 79,95 EUR.
ISBN-13: 9783110313444

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