Einblicke ins mittelalterliche Klosterleben der Frauen

Wenn Bücher und Heilige Röcke erzählen – über zwei mediävistische Sammelbände

Von Jürgen WolfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jürgen Wolf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Will man Einblicke in das uns heute doch recht ferne Leben mittelalterlicher Frauenklöster gewinnen, bieten die beiden zu besprechenden Bände einen hervorragenden Doppeleinstieg. Die „Heiligen Röcke“ skizzieren einen wesentlichen Aspekt der norddeutschen Frauenfrömmigkeit des Mittelalters und führen in minutiösen Detailbeobachtungen einige Spezialaspekte des klösterlichen Lebens im Kloster Wienhausen vor: Die Skulpturenkleider, die Heiligen Röcke und insgesamt die Bedeutung von Bildwerken in der Heiligenverehrung. Der von Britta-Juliane Kruse herausgegebene Wolfenbütteler Ausstellungsband bietet dagegen, aus einer Reihe von Detailuntersuchungen hervorgegangen, den für die Einordnung notwendigen Überblick.

In den „Heiligen Röcken“ wird der Leser von den kundigen Herausgeberinnen des Bandes von der ersten Seite an die Hand genommen und durch die zunächst merkwürdig anmutende Klosterwelt geführt. Ein kurzer historischer Abriss der Klostergeschichte des 1221 gegründeten Zisterzienserinnenklosters Wienhausen steckt den Rahmen ab. Ebenso konzise werden Ziele der Untersuchung, Quellen und Methoden vorgeführt. Mit diesem Rüstzeug ausgestattet nähert sich der Leser, jetzt schon ein stückweit wissend, den Skulpturenkleidern in norddeutschen Frauenklöstern beziehungsweise in Wienhausen.

Anhand zahlreicher, gut dokumentierter und bebilderter Beispiele wird die Genese der Tradition, heilige Figuren in jeweils den Figurentypen adäquate Kleider einzukleiden, beschrieben. Die zahlreich zusammengetragenen Beispiele reichen dabei zurück bis ins ausgehende 13. Jahrhundert und offenbaren einen ungemein vielfältigen Formen-, Stoff-, Gestaltungs- und Ausstattungsstandard, ganz zu schweigen vom künstlerischen Niveau.

Diese gleichsam als Vorwort, aber auch als Gesamtübersicht zu lesenden Ausführungen münden schließlich in die auf das Kloster Wienhausen fokussierte Detailanalyse, wobei nicht nur die erhaltenen Skulpturenkleider in Wienhausen an sich, sondern auch alle Zeugnisse (Archivalien) drum herum detailliert in den Blick genommen und analysiert werden. Der Leser taucht so unmittelbar in das Klosterleben des Spätmittelalters, aber auch der Frühen Neuzeit ein. Insbesondere die zahlreich dargebotenen Archivalien erwecken die Figuren und den Klosteralltag gleichsam zum Leben, bis diese schließlich im 18. Jahrhundert in größerer Zahl verkauft werden, um etwa Leuchter für den Altar erwerben zu können.

Kunsthistorisch wertvoll sind die Forschungsergebnisse zu den verwendeten Materialien. Zu diesem Zweck wurden die einzelnen Gewebe genau untersucht, ihre Herkunft bestimmt und ihre Verarbeitung nachvollzogen. Zudem werden Aufstellungsorte, Funktionen und Nutzungshintergründe eruiert und im Gesamtzusammenhang des Klosterlebens verortet. Für den Germanisten sind diese Ausführungen zur Klosterkultur an sich schon spannend, entstehen doch genau in diesen norddeutschen Frauenklöstern allgemein sowie in Wienhausen im Besonderen unzählige religiöse Bücher – oft lateinische und volkssprachige Gebetbücher – für die Nonnen selbst, aber auch für die Damen der Lüneburger oder sogar Lübecker Gesellschaft. Die Klöster sind zugleich Horte der Schriftproduktion, der Literatur und der Bildung und prägen zu einem nicht unerheblichen Maße das kulturelle Profil einer ganzen Region.

Für den Literaturwissenschaftler besonders spannend wird es aber, wenn man sich die Heiligen Röcke genauer anschaut. Einerseits sind sie selbst Bild- und vor allem Schriftträger, andererseits bestehen sie zu einem Teil aus Schrift. Diesem Aspekt widmet sich der Gastbeitrag der Newcastler Germanistikprofessorin Henrike Lähnemann: Zahlreiche Figurenkleidchen sind aus alten Pergamenthandschriften gemacht beziehungsweise enthalten zur Verstärkung, Strukturierung oder Ausgestaltung Reste makulierter mittelalterlicher Kodizes. Im Verbund mit den Kunsthistorikerinnen und Restauratorinnen des Teams kam bei der Untersuchung der Heiligen Röcke fast eine kleine Bibliothek mittelalterlicher Werke zusammen. So fanden sich in den Kleidchen Pergamentfragmente aus liturgischen Handschriften, einer Agnes-Legende, einem ‚Sachsenspiegel‘, einem Passionstraktat und diversen anderen religiösen wie profanen Texten. Text und Textil sind hier eine ganz eigene, unerwartete Einheit eingegangen.

Den hervorragenden Band beschließt ein umfangreicher, von Wiebke Haase und Tanja Weißgraf erstellter, mit gestochen scharfen Bildern und wertvollen Detailinformationen versehener Katalog der Wienhäuser Skulpturenkleider. Das beigegebene Glossar erschließt die fremden Kultur- und Textilwelten auch für den Laien vorbildlich.

Will man das hier dargebotene Detailwissen in den norddeutschen Gesamtzusammenhang einordnen, steht mit dem von Britta-Juliane Kruse herausgegebenen Wolfenbütteler Ausstellungsband „Rosenkränze und Seelengärten“ das adäquate Hilfsmittel sofort bereit. Im Ausstellungskonzept ist der Überblicksgedanke nicht nur evident, sondern im vorliegenden kombinierten Forschungs- und Katalogband auch vorbildlich umgesetzt. Die von Kruse formulierte Skizze der Ausstellungskonzeption gibt dabei bereits einen umfassenden Gesamtüberblick, auf dessen Pfaden man zielgenau in zahlreichen Einzelaufsätzen namhafter Expertinnen und Experten jedes relevante Detail über die Gründungsgeschichten, die klösterliche Bildung und Buchkultur, die mittelalterlichen Reformbewegungen, die Liturgie und Frömmigkeitspraxis, die klösterliche Literaturrezeption und schlussendlich die Reformation nachlesen kann.

Unter germanistischen Gesichtspunkten exemplarisch herausgehoben seien die Aufsätze von Martina Giese zu den Gründungsgeschichten einiger relevanter Frauenklöster, von Henrike Lähnemann zu den Medinger Nonnen als Schreiberinnen, von Jessica Kreutz zur spätmittelalterlichen Bildungskultur, von Bertram Lesser und Femke Prinsen zu den Einbänden, von Beate Braun-Niehr zum ‚Recycling‘ klösterlicher Bücher und von Tanja Mattern zum Wienhäuser Legendar im Kontext seiner Überlieferung. Mit diesen schrift-, text- und buchzentrierten Beiträgen einher gehen Untersuchungen zu vielen anderen Aspekten von Bildung und Frömmigkeit in den niedersächsischen Frauenklöstern. Immer wieder sind es exemplarische Detailschnitte in einzelne Klöster – Dorstadt, Heiningen, Lamspringe, Medingen, Steterburg, Wienhausen, Wöltingerode –, die aus dem Besonderen heraus das Allgemeine aufscheinen lassen. Was entsteht ist ein ungemein dichtes Bild dieser niedersächsischen Frauenklosterlandschaft, die damit erstmals auch großflächig als Kulminationspunkt von Bildung und Kultur einer ganzen Region und einer ganzen Epoche transparent wird. Gleichsam en passant bieten die Beiträge noch unzählige Einzelinformationen zu den je exemplarisch untersuchten Klöstern, Artefakten, Personen und Konstellationen.

Direkt in das Herz germanistischer Interessen führen dabei insbesondere Lähnemanns Beitrag – ihr gelingt es, Medinger Nonnen nicht nur als Schreiberinnen nachzuweisen, sondern über deren Schreibprodukte auch Einblicke in die Schreib- und Denkpraxis zu gewinnen –, sowie Matterns Untersuchung zum um 1300 entstandenen niederdeutschen „Wienhäuser Legendar“, das eingebettet wird in eine ebenso literarische wie bildnerische Klosterkulturlandschaft aus der neben dem Legendar ein bilinguales lateinisch-niederdeutsches Wienhäuser Osterspiel, das ebenfalls bilingual lateinisch-niederdeutsche „Wienhäuser Liederbuch“, die Wienhäuser Tristanteppiche und ein aufwändiges Bildprogramm des Nonnenchors hervorgehen. Natürlich bleibt hier und andernorts die lateinische Schriftlichkeit selbst in den Frauenklöstern noch lange dominierend, die herausgegriffenen Einzelzeugnisse belegen aber, dass sich dort schon sehr früh – auch – das Mittelniederdeutsche als Schrift- beziehungsweise Literatursprache etablieren kann.

Wie im oben besprochenen Wienhäuser Band beschließt ein umfangreicher, reich bebilderter und hervorragend kommentierter Katalog den Band, der für Germanisten, Latinisten, Historiker, Kunsthistoriker wie Theologen gleichermaßen einen schier unerschöpflichen Fundus an Untersuchungsgegenständen bietet.

Wer sich über mittelalterliche Frauenfrömmigkeitsgeschichte im deutschen Norden informieren will, ist mit diesen beiden Bänden also gut beraten. Zusammen ergeben sie vom kleinsten Detail bis zum Überblick ein großes Ganzes, das die Entwicklungen vom hohen Mittelalter über die Reformation bis in die Neuzeit hinein reich dokumentiert sowie eingänglich und auch für Laien gut lesbar nachzeichnet.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Charlotte Klack-Eitzen / Wiebke Haase / Tanja Weißgraf (Hg.): Heilige Röcke. Kleider für Skulpturen in Kloster Wienhausen.
Verlag Schnell und Steiner, Regensburg 2013.
184 Seiten, 39,95 EUR.
ISBN-13: 9783795427016

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Titelbild

Britta-Juliane Kruse (Hg.): Rosenkränze und Seelengärten. Bildung und Frömmigkeit in niedersächsischen Frauenklöstern.
Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Wiesbaden 2013.
348 Seiten, 39,80 EUR.
ISBN-13: 9783447068130

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