Spiel – ein Schlüsselbegriff der Moderne

Ein von Michel Henri Kowalewicz herausgegebener Tagungsband beleuchtet Facetten einer Ideengeschichte des Spiels

Von Willi HuntemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Willi Huntemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dem Münsteraner Mentis-Verlag kommt das Verdienst zu, seit dem Jahre 1998 der Stimme der analytischen Philosophie im deutschsprachigen Raum mit Arbeiten zur Philosophie des Geistes wie zur Literaturtheorie, mithin in einer geisteswissenschaftlichen Domäne, Geltung verschafft zu haben. Mit dem vorliegenden Sammelband, der auf eine Tagung im Jahre 2012 am neu gegründeten Forschungszentrum für Ideengeschichte an der Jagiellonen-Universität Krakau zurückgeht, beschreitet der Verlag überraschend neue Wege und eröffnet eine Reihe mit „Beiträgen zur Ideengeschichte Europas“.

Das zentrale Leitkonzept „Spiel“, Musterbeispiel eines vieldeutigen, unscharfen Begriffs, hätte in seinen ideengeschichtlichen Ausprägungen eine Klärung im analytischen Geiste des Verlagsprogramms sicherlich gut vertragen, doch davon – soviel sei schon verraten – kann in kaum einem der hier versammelten vierzehn Beiträge die Rede sein.

Dass ein ideengeschichtlicher Pilotband wie dieser so gar nicht zum bisherigen Verlagsprofil passen will, ruft unwillkürlich die Frage nach dem Verhältnis von Ideengeschichte und Philosophie wach. Grundsätzlich gibt es methodisch zwei Arten, Ideengeschichte zu betreiben: einmal so, wie in der Literaturwissenschaft anhand fiktionaler Werke Motiv- und Ideenforschung betrieben wird, nämlich autorphilologisch. Charakteristische Themenmuster sind etwa „Das Motiv des Doppelgängers bei E.T.A. Hoffmann“ oder „Die Idee der Toleranz in Lessings ‚Nathan‘“. Letztes Ziel dieser Bemühungen ist es, den Autor und sein Werk besser zu verstehen, wozu auch die Erhellung rezeptions- und wirkungsgeschichtlicher Zusammenhänge beitragen soll. Freilich ist nicht ausgeschlossen, dass auch Licht auf die im Werk des Autors untersuchte jeweilige „Idee“ fällt, doch wer so fragt, ist nicht vorrangig daran interessiert, was zum Beispiel Toleranz „eigentlich“ bedeutet, etwa auch in Abgrenzung von verwandten Begriffen, und wo sie ihre Grenzen hat.

Eine andere Art der ideengeschichtlichen Forschung hingegen erfolgt in problemgeschichtlicher Perspektive: der Werkhorizont eines Autors wird überschritten, Verbindungslinien zwischen Autoren und Ideengebäuden beziehungsweise Theorien werden sichtbar und die Geltungsfrage tritt in den Blick, die beim autorphilologischen Zugriff eher marginalisiert wird; der Musterfall dieses Zugriffs, ein werkhermeneutisch-immanentes Vorgehen, erlaubt wegen des ästhetisch-fiktionalen Kontextes auch gar nicht, die Frage nach der „Wahrheit“ oder auch nur der Triftigkeit einer Begriffsbildung zu stellen. Bei der so verstandenen Ideengeschichte treten auch der zeitdiagnostische Stellenwert von Ideen und ihre Wirkkraft durch die Zeiten besser hervor, wenn Beziehungslinien über Zeit- und Autorengrenzen, ja auch über Disziplingrenzen hinweg gezogen werden. Schnittstellen zur Philosophie, verstanden als eine an der Klärung von Sachfragen interessierten systematischen Disziplin, eröffnen sich, ein sachlicher Erkenntnisgewinn wird möglich, der nicht auf das bessere Verstehen eines Autors beschränkt bleibt.

Zwischen diesen beiden Möglichkeiten sind die Beiträge des Tagungsbandes angesiedelt. Es überwiegen Spezialstudien mit überreichem Anmerkungsapparat, die den Spielaspekt im Werk von Philosophen herausarbeiten; die Spanne reicht dabei von Nikolaus von Kues, über Husserl, Heidegger bis zu Valéry und Wittgenstein. Diesen Beiträgen mangelt es zumeist an Explikationsschärfe und kritischer Distanz, besonders eklatant fällt dies bei Paweł Dybels Beitrag über „Gadamers Konzept des Kunstwerks als Spiel“ ins Gewicht. Die Darstellung ist rein affirmativ-referierend und verschenkt so die Möglichkeit, die ontologische Kunsttheorie des Philosophen, die er in seinem Hauptwerk „Wahrheit und Methode“ entwickelt, nach über 50 Jahren einer kritischen Geltungsprüfung zu unterziehen. Beim Beitrag des Bandherausgebers Kowalewicz zur Spiel-Studie von Roger Caillois „Die Spiele und die Menschen“ (1958) fragt man sich, für welchen Leser er sie geschrieben haben mag: als einführende Darstellung ist sie zu überfrachtet mit ausufernden Verweisen wie Zitaten und zu wenig fokussiert auf die Kerngedanken – etwa die Spiel-Typologie Caillois’ –, für den Kenner hingegen mangelt es auch hier an einer kritischen Perspektivierung. An dieser Stelle zeigt sich aber auch ein grundlegendes Manko der ideengeschichtlichen Methodik. Der Verfasser geht ausführlich auf die Kritik Caillois’ an Johan Huizingas 20 Jahre zuvor erschienener berühmter Studie „Homo Ludens“ ein. Etwas salopp pointiert könnte man nun sagen: Ideengeschichte ist, wenn man fragt, worin die Kritik eines Autors X an seinem Vorgänger Y besteht, und die Differenzen zwischen beiden genauer darlegt; Philosophie ist, wenn man fragt, wer Recht hat.

Ludwig Wittgenstein, dessen „Sprachspiel“-Konzept im 20. Jahrhundert weite Kreise gezogen hat, sind gleich zwei Beiträge gewidmet. Der Krakauer Philosoph und Kognitionsforscher Józef Bremer geht dem Sprachspiel des religiösen Glaubens auf den Grund und fällt in seiner Zurückhaltung in Bezug auf Fußnoten und die einschlägige Literatur angenehm in der Reihe der Beiträger auf. Der Philosoph Michael Anacker beleuchtet die Vorgeschichte der Wittgenstein’schen Sprachspiel-Idee, indem er eine Linie eines empiristisch-pragmatischen Sprachverständnisses aufzeigt und damit für eine „anti-theoretische“, handlungsorientierte Auffassung von Philosophie plädiert. Dieser Beitrag, dem der Ton des mündlichen Vortrags nicht wegredigiert wurde, zeigt vorbildlich, wie eine ideengeschichtliche Rekonstruktion aussehen kann, die zugleich philosophisch ambitioniert ist und nicht nur archivarisch Ideen verortet. Er zählt bereits zu den interessanteren Beiträgen dieses Tagungsbandes – leider ist es nicht die Mehrzahl –, die problemgeschichtlich anstatt autorphilologisch verfahren. Sie gehen dem Spiel in verschiedenen disziplinären Kontexten nach.

So schlägt Angelika Hoffmann-Maxis einen sehr weiten Bogen, wenn sie dem Spielbegriff bei zwei scheinbar inkommensurablen Autoren wie Schiller und Derrida detailliert nachgeht und doch zu einem bündigen Resümee kommt. Aus den gewohnten literarisch-philosophischen Bahnen heraus führt der erhellende Beitrag von Simone Heinemann über „Spiel und Spekulation“, der die spiel-affine Seite der Finanzmarktspekulation, greifbar in Begriffen wie „Kasino-Kapitalismus“ oder „Finanzjongleur“, in finanztheoretischer und -geschichtlicher Perspektive näher beleuchtet.

Der Grazer Philosoph und Ideenhistoriker Karl Acham schließlich verfolgt in bestechend souveräner Übersicht eine Gedankenfigur, der jeder schon einmal begegnet ist: dem „freien Spiel der Kräfte“. Hier zeigt sich Ideengeschichte at its best, mit einem Erkenntnisgewinn, der weit über „ludologisch“ oder nur historisch Interessierte hinausreicht. Gerade in den aktuellen Diskursen um die Grenzen der Markt- und Wissenschaftsfreiheit ist diese Denkfigur virulent. Acham umreißt, wie dieses Konzept seit dem 18. Jahrhundert durch die Disziplinen von Ästhetik, Ethik, Staats- und Wirtschaftstheorie, aber auch Wissenschaftstheorie (als „Freiheit im Spiel von Argument und Gegenargument“) wandert und in verschiedenen ideengeschichtlichen Kontexten wechselnden Bewertungen unterliegt: von der Apologie im Liberalismus bis hin zu Grenzsetzungen von Seiten der Kritiker an einer unbegrenzt verstandenen Freiheit des Marktes sowie der wissenschaftlichen Forschung.

Es ist mehr als bedauerlich, dass ausgerechnet die Spieltheorie – in einer (auch noch so umrisshaft verstandenen) Ideengeschichte des Spiels mit dem Schwerpunkt auf dem 20. Jahrhundert wohl weitaus mehr als nur eine „Facette“ unter vielen – einzig in einem Artikel in italienischer Sprache vertreten ist. Ein deutsch- oder englischsprachiger Abstract hätte zumindest verhindern können, dass man sich als nicht italophoner Leser düpiert fühlt.

Ähnlich überblickshaft, doch mit mehr begriffsgeschichtlicher Fokussierung verfährt der abschließende Beitrag von Gunter Scholtz, der das Spiel als „Schlüsselbegriff für das moderne Bewusstsein“ plausibel zu machen sucht, indem er den Stellenwert des Begriffes und seine Leistungsfähigkeit in unterschiedlichen disziplinären Feldern herausarbeitet, von der (theologischen und philosophischen) Ethik, Ästhetik, Anthropologie, bis zur Kultur und Entscheidungstheorie sowie Daseinsdeutung. Hier wird auch deutlich, wie lohnend es sein kann, nach der Funktion eines Begriffes (anstatt nur nach seinem Sinn) in einem Theoriekontext zu fragen. Scholtz kommt zu der Konklusion: „Ist die Spieltheorie eine Bewältigung von bestimmten Kontingenzen durch rationale Überlegung, so ist die Spielkategorie in Daseins- und Weltdeutung eine Bewältigung von allgemeiner Kontingenz durch Hinnahme, Akzeptanz, Sich-Fügen“. Spiel „wurde wichtig als Deutungsbegriff für eine Welt, die metaphysisch und wissenschaftlich nicht hinreichend verständlich zu machen war“.

Nur wegen dieser problemgeschichtlich verfahrenden Artikel im zweiten Teil ist der Band lesenswert, die übrigen Beiträge wären in einem Forschungsband zum jeweiligen Autor besser aufgehoben.

Titelbild

Michel Henri Kowalewicz (Hg.): Spiel. Facetten seiner Ideengeschichte.
mentis Verlag, Münster 2013.
253 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783897855151

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