Die Barbarei der Bildung

Die von Klaus Böhme herausgegebenen „Aufrufe und Reden deutscher Professoren im Ersten Weltkrieg“ erleben eine Wiederauflage

Von Julian NordhuesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julian Nordhues

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Es gibt Bücher, die man nicht ohne einen gewissen Ekel aus der Hand legt. Und zu ihnen gehört das hier besprochene.“ Drastische Worte fand Jost Hermand in seiner Rezension der Erstauflage (1975) der von Klaus Böhme herausgegebenen „Aufrufe und Reden deutscher Professoren im Ersten Weltkrieg“ für die seinerzeit entstandenen publizistischen Werke seiner Berufsgenossen. In diesem Jahr ist bei Reclam die zweite Auflage der „Reden und Aufrufe“ erschienen.

Die bürgerlichen Schichten, und darunter besonders die Bildungselite der Akademiker, wurden mit Beginn des Ersten Weltkriegs von einer patriotischen Euphorie ergriffen. Mit einer fast unüberschaubaren Fülle von kriegsverherrlichenden und nationalistischen Reden, Aufrufen, Stellungnahmen und Predigten wirkten sie auf die Öffentlichkeit ein. Insbesondere die Hochschullehrer sahen es als ihre nationale Pflicht an, Orientierung zu geben und das Kriegsgeschehen einzuordnen. Klaus Böhme versammelt 34 dieser öffentlichen Reden, Artikel und Aufrufe zur geistigen Mobilisierung der Kriegsgesellschaft, zum Teil von Einzelpersonen verfasst oder als Erklärungen konzipiert, die unter den deutschen Gelehrten teilweise tausende Unterzeichner fanden.

Wieder einmal bestätigt sich Karl Kraus’ unerbittliche Analyse der Haltung deutscher Bildungseliten: „Keineswegs hat die deutsche Intelligenz, welche wie die keines andern Landes, vom ersten Dichter bis zum letzten Reporter, vom ersten Völkerrechtsprofessor bis zum letzten Pastor, in der feldgrauen Materie gesiehlt, im fremden Bluterlebnis geschwelgt, ja vielfach von dieser Haltung ihre Existenz gefristet und durch den Claqueurdienst für Haudegen die eigene Unversehrtheit errungen hat, keineswegs hat die Barbarei der Bildung auch nur den geringsten Anspruch auf Mitleid […].“

Zu Beginn des Kriegs richtete sich der publizistische Kampf der Professoren vor allem gegen die von alliierter Seite erhobenen Vorwürfe der völkerrechtswidrigen Verletzung der belgischen Neutralität und der deutschen Kriegsverbrechen in Belgien. In der auch in ausländischen Medien weit verbreiteten Manifestation „Aufruf an die Kulturwelt“ vom 4. Oktober 1914, reagierten die Unterzeichner, darunter 56 namhafte deutsche Professoren, aggressiv gegen „die Lügen und Verleumdungen, mit denen unsere Feinde Deutschlands reine Sache in dem ihm aufgezwungenen schweren Daseinskampfe zu beschmutzen trachten.“ („Aufruf an die Kulturwelt“)

Die hochemotionalisierte Zurückweisung der Anklagen gipfelte in einem trotzigen Bekenntnis zum deutschen Militarismus, gar in der Gleichsetzung von Militarismus und deutscher Kultur. Die von britischen Akademikern geäußerte Hoffnung, es könne zwischen einem geistigen Deutschland und einem Deutschland des Militarismus unterschieden werden, wurde von den deutschen Professoren enttäuscht – im „Aufruf an die Kulturwelt“ heißt es: „Ohne den deutschen Militarismus wäre die deutsche Kultur längst vom Erdboden getilgt. […] Deutsches Heer und deutsches Volks sind eins.“

Besonders in der Anfangsphase des Kriegs haben die Aufrufe und Reden deutscher Professoren einen Dialogcharakter – dem Aufruf oder Artikel ausländischer Akademiker folgte prompt die publizistische Reaktion deutscher Gelehrter. Die internationalen Bande der Vorkriegszeit waren zerrissen und an die Stelle persönlicher Diskussionen unter Akademikern rückte nun ein „Schlagabtausch zwischen den Kollektiven“ (Jürgen von Ungern-Sternberg). Deutsche Professoren taten sich in ihren Aufrufen durch Arroganz und Selbstgefälligkeit hervor, ganz im Gegensatz zu ihren britischen Kollegen, die einen gemäßigteren und um Ausgleich bemühten Ton anschlugen. Entgegen der akademischen Tradition der Vorkriegszeit reagierten die deutschen Professoren nun äußerst empört und unterstrichen ihr Selbstverständnis, indem sie sich gegen die Trennung von Militarismus und deutscher Wissenschaft bekannten. In der von Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff verfassten „Erklärung der Hochschullehrer des Deutschen Reiches“ vom 16. Oktober 1914 mit 3.016 Unterzeichnern liegt laut Böhme das „eindringlichste Dokument für die Bereitschaft der Akademiker zum geistigen Kriegseinsatz“ vor. Um ihre Position unmissverständlich darzulegen, verstiegen sie sich sogar zu der Aussage: „Unser Glaube ist, daß für die ganze Kultur Europas das Heil an dem Siege hängt, den der deutsche ‚Militarismus‘ erkämpfen wird“.

Neben ihrer vollständigen Identifikation mit dem politischen System und der Machtpolitik des Deutschen Reichs beteiligten sich die Professoren elementar an der Etablierung von Feindbildern und Stereotypen. Im „Aufruf an die Kulturwelt“ entrüsteten sich die Akademiker über feindliche Staaten, „die sich mit Russen und Serben verbündeten und der Welt das schmachvolle Schauspiel bieten, Mongolen und Neger auf die weiße Rasse zu hetzen“. Als Hauptfeind wurde England identifiziert, das einer deutschen Weltmachtpolitik im Weg stand und dem deutsche Akademiker im „Aufruf Bonner Historiker“ vom 1. September 1914 vorwarfen, „in der unterirdischen Arbeit eines Vierteljahrhunderts“ feindliche Mächte gegen Deutschland aufgehetzt zu haben. „Erst als der lange mit hinterlistigen Ränken und heuchlerischen Lügen gesponnene Plan der Einkreisungsmächte in tückischem Überfall zur Ausführung kam“, habe sich das Deutsche Reich verteidigen müssen, so der Berliner Jurist Otto von Gierke in einer Rede von 1915. Bewusst wurde der Topos der „Einkreisung“ des friedlichen Deutschlands herangezogen, um ein aggressives außenpolitisches Vorgehen und die Anwendung schärfster Machtmittel zu legitimieren. Die propagandistischen Anstrengungen der Gelehrten zielten auf die Deutung des Kriegs als eines Kulturkriegs ab, der notwendig erschien, um deutsche Werte und Weltanschauung über die Grenzen Europas zu verbreiten. In Abgrenzung zu den westlichen liberal-demokratischen Werten, den freiheitlichen Ideen der französischen Revolution, erarbeiteten deutsche Akademiker die „Ideen von 1914“ als ein Alternativprogramm, welches die Aufbruchstimmung des Kriegsbeginns, die nationale Integration und innenpolitische Harmonisierung über die Kriegsdauer erhalten sollte.

Doch die in den Reden und Aufrufen viel beschworene nationale Einheit und Kameradschaft, der Burgfrieden aller Klassen, erwies sich schon bald als brüchig. In einer zweiten Phase der professoralen Publizistik standen Überlegungen zu innenpolitischen Reformen und zu den Kriegszielen des Deutschen Reichs im Mittelpunkt. Um den Durchhaltewillen der Bevölkerung aufrecht zu erhalten, diskutierten gemäßigtere Professoren eine Reform des preußischen Wahlrechts und der Verfassung des Kaiserreichs. Die Bereitschaft zur Demokratisierung erweist sich für Böhme „letztlich als taktisches Mittel zur machtpolitischen Vitalisierung des Reichs – ein Ziel, das die Radikalen auf anderen Wegen auch erstrebten“.

Radikale Akademiker mit Verbindungen zu nationalkonservativen Agitationsverbänden wie beispielsweise dem Alldeutschen Verband forderten lautstark Annexionen in den vom deutschen Militär besetzten Gebieten. 352 Hochschullehrer unterzeichneten im Juni 1915 die vom Berliner Theologen Reinhard Seeberg vorbereitete „Seeberg-Adresse“, die in einer Blut-und-Boden-Rhetorik von weitreichenden Annexionen und Kriegsentschädigungen fantasierte. „Maßloser Annexionismus wurde dem Volk als Surrogat für soziale und politische, auf mehr Mitwirkung und Kontrolle zielende Forderungen angeboten“, fasst Böhme die Taktik der Radikalen zusammen. In Gegnerschaft zur „Seeberg-Adresse“ und deren Unterzeichner sahen sich etwa 70 gemäßigtere Professoren wie Hans Delbrück zu einer Gegenerklärung veranlasst, die sich von diesem „gigantischen Eroberungsprogramm“ (Klaus Böhme) distanzierte. Doch auch die Gemäßigten lehnten Annexionen nicht ab, sie erhoben Gebietsansprüche im Osten und in Bezug auf Kolonien. „Die beiden Eingaben, die stark zur Polarisierung zwischen Radikalen und Gemäßigten beitrugen, stehen sich im Prinzip nicht diametral gegenüber, sondern die Programme unterscheiden sich lediglich im Stil und in der Methode der Argumentation“, so Böhme.

Dieser Befund lässt sich auf nahezu alle von Böhme versammelten Reden und Erklärungen der widerstreitenden Lager übertragen. Die politischen und weltanschaulichen Divergenzen innerhalb der Professorenschaft, die im Laufe des Kriegs in den Reden und Aufrufen deutlich wurden, gründeten sich nicht auf qualitativ unterschiedlichen Vorstellungen. Die Professoren passten ihre Annexionswünsche der jeweiligen Lage an der Front und in der Heimat an, wobei individueller Opportunismus und/oder der Grad des nationalistischen Fanatismus die Rhetorik der jeweiligen Rede bestimmten. Einigkeit herrschte besonders bei Annexionsforderungen im Osten, die ohne Skrupel propagiert wurden. Die Verwendung rassistischer Stereotype wie das der „Barbarenflut aus dem Osten“ („Seeberg-Adresse“) einerseits und die Betonung völkischer Macht- und Überlegenheitsfantasien andererseits verdeutlichen die professorale Sicht auf den Weltkrieg, „der als eine Aktion der germanischen gegen die slawische Rasse ausgebrüllt wurde“ (Karl Kraus).

Die Lektüre der professoralen Kriegspublizistik ist nach wie vor erschütternd. Der größte Teil der Akademiker verbreitete einen chauvinistischen Nationalismus, der jegliche kritisch-distanzierte und wissenschaftliche Haltung vermissen lässt. Mehr noch: Sie stellten sich freiwillig in den Dienst der Propaganda, verleugneten Kriegsverbrechen, legitimierten eine rücksichtslose Machtpolitik, verliehen Ehrendoktorate an Generäle und forderten maßlose Annexionen. Unter Aufbietung aller Kräfte sollte das Deutsche Reich den Krieg siegreich beenden und die Bevölkerung „ohne Murren die unberechenbaren Opfer [..] bringen“ (Otto von Gierke). Der Theologe Adolf von Harnack sah auf den Gesichtern der über den Tod ihrer Angehörigen Trauernden „Tränen, die in fester Zuversicht schimmerten, ja sogar in Dankbarkeit“.

Die vorliegende Wiederauflage der „Aufrufe und Reden“ ist ein großer Gewinn, führt doch Böhmes Textauswahl in Verbindung mit seinem überzeugenden Vorwort vor Augen, wie eng der publizistische Schulterschluss deutscher Gelehrter mit dem Militarismus und der Machtpolitik des Deutschen Reichs war.

Titelbild

Klaus Böhme (Hg.): Aufrufe und Reden deutscher Professoren im Ersten Weltkrieg.
Reclam Verlag, Ditzingen 2014.
253 Seiten, 7,80 EUR.
ISBN-13: 9783150192023

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