Störfälle der Kultur

Der Kultursoziologe Werner Binder hat mit „Abu Ghraib und die Folgen“ eine begrüßenswert interdisziplinäre Skandalstudie vorgelegt, die auch auf die Brauchbarkeit geisteswissenschaftlicher Theoreme aufmerksam macht

Von Regina RoßbachRSS-Newsfeed neuer Artikel von Regina Roßbach

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die im April 2004 veröffentlichten Fotografien aus dem Abu-Ghraib-Gefängnis bei Bagdad, die amerikanische Soldaten bei der Misshandlung irakischer Häftlinge zeigen, haben die US-amerikanische Gesellschaft tief erschüttert. Werner Binders Dissertationsschrift behandelt den Skandal aus kultureller und zeitlicher Distanz und kann damit die Fehler früherer Forschungen vermeiden, die zumeist selbst politische oder moralische Wertungen vorgenommen haben. Eine Fortsetzung des Skandals auf wissenschaftlicher Ebene kann nicht das Ziel sein. Binder geht es dagegen um ein umfassendes Verstehen, das Ursache, Verlauf und Folgen des Ereignisses mit einschließt und immer wieder von der Mikroebene der eigentlichen Missbrauchsfälle auf die Makroebene gesamtgesellschaftlicher Mechanismen wechselt, sodass seine methodisch extrem pluralistische Arbeit am Ende Rückschlüsse auf die Entwicklung einer Gesellschaft im Ganzen zulässt.

Die Ankündigung, im ersten Teil einen „eigenständigen Beitrag zur soziologischen Theoriebildung“ liefern zu wollen, wird voll und ganz eingelöst. Der Skandal wird in ein begrifflich präzise ausdifferenziertes Kulturmodell eingebettet. Kultur wird dabei durch den von Castoriadis und Charles Taylor geprägten Begriff des „sozialen Imaginären“ handhabbar gemacht. Als „symbolisches und imaginäres Bedeutungsgewebe einer Gesellschaft“ setzt sich das soziale Imaginäre laut Binder aus bildlichen, narrativen und performativen Komponenten zusammen und bildet den Hintergrund des Handelns und Sprechens. Der individuellen Intentionalität seien immer noch vorintentionale Schemata vorgeschaltet, denen sich Binder mit Émile Durkheim nähert.

Für eine Untersuchung des sozialen Imaginären sind laut Binder die von der Soziologie stark vernachlässigten Methoden aus Kunstgeschichte, Literaturwissenschaft und Philosophie ertragreich. Wie künstlerische Erzeugnisse sind auch kulturelle Muster durch große Deutungsoffenheit gekennzeichnet. Das zeigt sich etwa an den Kriterien, die Binder für den ikonischen Wert eines Bildes aufstellt. Wenn er die Abu-Ghraib-Fotografien als Ikonen deklariert, so ist das auf ihre motivische Dichte zurückzuführen: Sie enthalten Elemente, die religiöse, politische und historische Bezüge herstellen lassen.  

Eine der Fotografien – häufig als „hooded figure“ – bezeichnet, zeigt etwa einen in schwarzem Gewand mit ausgestreckten Armen instabil auf einer Kiste stehenden Gefangenen. Sein Gesicht ist hinter einer spitzen Kapuze verborgen; an seinen Händen sind Stromkabel befestigt. Das Bild hat verschiedenste Assoziationen geweckt: die Kreuzigung Jesus Christus‘, muslimisch tradierte Verschleierung, Inquisition, Gespenst und Ku-Klux-Klan, um nur einige zu nennen. Eine zentrale These Binders versteht die Fotos als Auftakt zu einer „ikonischen Wende“, in der die US-amerikanische „Großerzählung“ vom „Krieg gegen den Terror“ durch das neue Narrativ von der „globalen Finanzkrise“ abgelöst worden sei. Dass auch fiktive Darstellungen sich kollektiver Muster aus dem Imaginären bedienen, zeigt Binder durch die politisch häufig verwendete Metapher der „Terrorist Aliens“, die etwa in das Science-Fiction-Genre Eingang gefunden habe. Andersherum beeinflussen Fiktionen auch die kollektive Wahrnehmung. Schon in der Vorgeschichte des Abu-Ghraib-Skandals, die bei Pearl Harbor einsetzt, den Zweiten Weltkrieg und 9/11 mit einschließt, macht Binder dieses Verhältnis deutlich. Er nennt etwa Chomskys Holocaust-Serie (1978) oder das Motiv des „guten Folterers“, der seit dem Zweiten Weltkrieg immer wieder als vermeintlicher Kämpfer für die gute Sache in Filmen und Serien auftaucht. „Der Einfluss fiktionaler Medien auf gesellschaftliche Moralvorstellungen wird von den meisten Soziologen und Philosophen immer noch unterschätzt.“, so Binder.

Vor dem Hintergrund von Binders Kulturkonzept werden auch dem Skandal klare Funktionsweisen und Funktionen zugeschrieben. Zum einen erscheint er selbst als Teil des Imaginären, da er wie ein Ritual als ein „liminales Ereignis“ daherkommt: die Alltagsnormen außer Kraft setzt und so ein starkes Gemeinschaftsgefühl schafft. Zum anderen ist er eine Reaktion auf Bedrohungen des kollektiven Selbstbildes. Besonders einleuchtend ist die Überlegung, dass solche Bedrohungen teils dem von René Girard untersuchten Sündenbock-Mechanismus ähneln. Binder zitiert Susan Sontag, die auf die Skandalbilder mit dem Ausspruch „The photographs are us“ reagiert hat: Die amerikanische Gesellschaft hat selbst die Bilder und Denkmuster geprägt, derer sich die Soldaten in Abu Ghraib  bedienten. Die Bedrohung ihres Images geht also von ihnen selbst aus und nicht von einigen „Perversen“ oder „Bad Apples“, wie es Donald Rumsfeld kurz nach Veröffentlichung der Fotografien formulierte.   

Dass der Skandal selbst als Performanz funktioniert, zeigt sein Aufbau als Drama. Binder spricht in der Analyse der Langzeitfolgen etwa von einem retardierenden Moment. So hat sich das Ende des „Krieg gegen den Terror“-Narrativs durch die Racheaktion irakischer Terroristen erst noch einmal verzögert: Die öffentlich ausgestrahlte Videoaufnahme, in der der amerikanische Geschäftsmann Nicholas Berg hingerichtet wird, ließ den frischen Eindruck der Bilder von irakischen Gefangenen als Opfer zunächst wieder verblassen. Erst nach Bushs Wiederwahl wurden durch das McCain Amendment neue Standards in Verhörsituationen durchgesetzt.

Der Skandal ist ein kurzlebiges Ereignis. Im letzten Teil zeigt Binder, dessen Studie insgesamt durch enormen Materialreichtum hervorsticht, wie er dennoch lange im kollektiven Repertoire der Kultur nachhallt. Insbesondere die Kunst führe zu einer Kanonisierung seiner Gehalte und konserviere dabei zugleich die Komplexitäten der öffentlichen Moral im kulturellen Gedächtnis. Aber auch auf spätere politische Debatten, Dokumentarfilme und populäre TV-Serien stellt er einen Einfluss des Skandals fest. 

Binders gut durchdachte Argumentation kann hier nicht in allen Feinheiten wiedergegeben werden. Seine Studie ist nicht nur für Kultursoziologen, sondern auch für Literaturwissenschaftler interessant und auf Anschlussfähigkeit zu prüfen. Einen Wermutstropfen stellen die zahlreichen Tipp- und Satzfehler dar, die trotz einer sich lockernden Alltagskommunikation gerade bei längeren Texten den Lesefluss immens stören.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Werner Binder: Abu Ghraib und die Folgen. Ein Skandal als ikonische Wende im Krieg gegen den Terror.
Transcript Verlag, Bielefeld 2013.
548 Seiten, 46,99 EUR.
ISBN-13: 9783837625509

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