Neue Stimmen für die Klassiker

Ein deutsch-italienischer Sammelband zum Problem der Neuübersetzung von Petrarca bis Musil und Pavese

Von Olaf MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Olaf Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was ein klassischer Text ist, hängt zu einem bedeutenden Teil auch davon ab, von welcher Qualität die Übersetzungen sind, in der diese Texte Lesern, die der Sprache des Originals nicht ausreichend mächtig sind, zur Verfügung stehen. Hinter dieser nur scheinbar banalen Feststellung verbirgt sich eine Fülle von Problemen, die von linguistischen Fragen bis zu ökonomischen Überlegungen der Verlage reichen. Bei welchen Autoren wagt man eine kostspielige Neuübersetzung, obwohl etablierte Übertragungen, eventuell sogar in Taschenbuchausgaben, bereits vorliegen? Mit welchen sprachlichen Argumenten lässt sich ein solches Unternehmen rechtfertigen? Am Beispiel von größtenteils in den letzten zwanzig Jahren entstandenen, neuen Übersetzungen deutscher und italienischer „Klassiker“ wie Kleist, Benn, Droste-Hülshoff oder Musil bzw. Petrarca, Manzoni, Nievo, Ungaretti, Pirandello oder Pavese untersucht der von drei erfahrenen Übersetzern herausgegebene Band wichtige Aspekte dieses Phänomens.

Eine bekannte Feststellung ist, dass Übersetzungen schneller altern als die Originale. Allein das ist ein triftiges Argument für die regelmäßige Überprüfung der Gültigkeit etablierter Übersetzungen. Doch in vielen Fällen geht es nicht nur um Alterserscheinungen, sondern auch um handfeste Mängel schon lange zirkulierender Fassungen. Ein wichtiges Merkmal vieler Neuübersetzungen jüngeren Datums sowohl im Italienischen als auch im Deutschen ist daher, dass die Ausgaben oft mit einem umfangreichen philologischen Apparat versehen sind, der von Anspruch und Umfang her bisweilen schon in die Nähe dessen gelangt, was für das Original eine historisch-kritische Ausgabe leisten kann. Beispiele hierfür sind die neue italienische Kleist-Ausgabe, deren Herausgeberin Anna Maria Carpi den vorliegenden Band eröffnet, oder die deutschen Übersetzungen Ippolito Nievos von Barbara Kleiner, von denen man ohne Übertreibung sagen kann, dass sie einen der wichtigsten italienischen Romanciers des 19. Jahrhunderts zum ersten Mal in einer dem Original angemessenen deutschen Fassung präsentieren.

Ähnliches gilt für die neue Übersetzung von Alessandro Manzonis Promessi sposi („Die Brautleute“), die Burkhart Kroeber, einer der bekanntesten deutschen Übersetzer aus dem Italienischen, im Jahr 2000 mit einem ausführlichen Kommentar versehen vorgelegt hat. Kroeber ist ebenfalls unter den Autoren des Bands vertreten, der sich überhaupt dadurch auszeichnet, dass er einige der zur Zeit wichtigsten deutschen und italienischen Übersetzer und Übersetzungsspezialisten zu Wort kommen lässt.

In einem eigens dem Problem der Lyrik-Übersetzung gewidmeten Abschnitt äußern sich Karlheinz Stierle und Michael von Killisch-Horn zu ihren deutschen Versionen von Petrarca und Ungaretti, während Camilla Miglio und Michele Vangi die italienische Übersetzungsgeschichte von Gottfried Benn und Annette von Droste-Hülshoff nachzeichnen. Die mehrbändige deutsche Ungaretti-Ausgabe von Killisch-Horn und Angelika Baader, die ab 1991 erschienen ist, bietet ein weiteres Beispiel für den gestiegenen philologischen Anspruch, mit dem viele Übersetzungsunternehmen in den letzten Jahrzehnten auftreten. Die zweisprachige deutsche Ausgabe von Ungarettis Lyrik war bis zum Erscheinen einer überarbeiteten italienischen Gesamtausgabe im Jahr 2009 vollständiger als die bis dahin vorliegenden italienischen Editionen, da sie auch das französischsprachige Frühwerk und Ungarettis Selbstübersetzungen nahezu komplett erfasste.

Reim und Rhythmus als die Besonderheiten, durch die sich viele lyrische Texte von Prosa unterscheiden – Burkhart Kroeber erinnert daran, dass Alessandro Manzoni für besonders dramatische Passagen in seinem Roman bisweilen auf den Elfsilbler, das populärste italienische Versmaß für Lyrik und Drama, zurückgreift –, stellen die Übersetzer von gebundener und gereimter Sprache vor das grundsätzliche Problem, ob auch die Übersetzung diese Merkmale enthalten sollte, oder ob eine möglichst wort- und syntaxgetreue Prosaübersetzung nicht die angemessenste Lösung sein könnte. Als Friedhelm Kemp und Wolfgang Drost vor vierzig Jahren im Hanser-Verlag die große zweisprachige Baudelaire-Ausgabe begonnen haben, entschieden sie sich für die Prosalösung, die vor allem die Funktion einer Lesehilfe für das Original haben sollte. Hans Magnus Enzensberger hatte sich schon 1960 in seinem Museum der modernen Poesie gegen diese Lösung ausgesprochen, da auch die Übersetzung eines Gedichts immer noch deutlich machen müsse, dass es sich beim Ausgangstext um ein Gedicht handele. Karlheinz Stierle erläutert mit ähnlichen Gründen, warum er sich bei seinen Petrarca-Übertragungen für eine gereimte Fassung entschieden habe, obwohl damit die Treue zu Wortlaut und Syntax des Originals nicht immer durchzuhalten gewesen sei. Die Bedeutung des Reims bei der Lyrikübersetzung sieht Stierle darin, dass der Reim zu den „Unverzichtbarkeiten“ gehöre, die aus dem „Intensitätszentrum des Gedichts selbst hervorgehen“. Auch wenn der Reim jeweils an die „Zufallskonstellationen gebunden [ist], die die lautliche Konkretheit einer Sprache bereitstellt“, muss er deshalb zumindest in Entsprechungen wiedergegeben werden. Im Fall von Petrarcas Rerum vulgarium fragmenta (dem sogenannten „Canzoniere“) wird die Bedeutung des Reims als Merkmal von Dichtung nach der Antike außerdem gleich im ersten Vers des Eingangssonetts hervorgehoben, wenn das nachfolgende Werk insgesamt unter dem Oberbegriff der „rime sparse“, der ‚verstreuten Reime‘ zusammengefasst wird.

Die Abwägung zwischen Treue zum Reim und Treue zu Wortlaut und Syntax ist auch für die italienischen Fassungen der Gedichte Gottfried Benns und von Annette von Droste-Hülshoffs „Geistliches Jahr“ eine entscheidende Frage, wie Camilla Miglio und Michele Vangi zeigen. Im Falle Benns kommt dazu noch ein Dezenzkriterium, das noch 1954 in einer wichtigen Auswahlausgabe zum Ausschluss von Texten führt, die dem Übersetzer und Herausgeber Leone Traverso als für italienische Ohren zu wenig lyrisch und harmonisch erscheinen. Miglio weist außerdem auf die Bedeutung von Hugo Friedrichs „Struktur der modernen Lyrik“ hin, das bereits 1958, zwei Jahre nach der deutschen Ausgabe, in italienischer Übersetzung vorlag und für die Kanonisierung Benns in Italien als Vertreter der modernen europäischen Lyrik eine erhebliche Wirkung gezeitigt habe.

Michele Vangi plädiert in seinem Beitrag über Annette von Droste-Hülshoffs „Geistliches Jahr“, das er mit Manzonis „Inni Sacri“ vergleicht, für eine vollständige italienische Übersetzung dieses für ein italienisches Publikum bislang nur in Auszügen vorliegenden Werks. Überhaupt sei der Status der Droste in Italien, wie Vangis Überblick über die Rezeptionsgeschichte zeigt, von dem eines „Klassikers“ noch ein wenig entfernt, aber vielleicht könnte eine italienische Version dieses religiösen Langgedichts sie dem ja näher bringen.

Der Abschnitt zur Prosaübersetzung bietet Beiträge zu den deutschen Fassungen von Manzonis Promessi sposi,von Ippolito Nievos Confessioni di un italiano (Die Bekenntnisse eines Italieners), von Cesare Paveses Prosaschriften sowie zu den italienischen Übersetzungen von Musils Mann ohne Eigenschaften. Verfasst sind diese jeweils von den Übersetzern der aktuellsten Ausgaben dieser Texte (Burkhart Kroeber für Manzoni, Barbara Kleiner für Nievo, Ada Vigliani für Musil und Maja Pflug für Pavese). Treue zur Syntax ist das Prinzip, dem sich Burkhart Kroeber dabei ausdrücklich verpflichtet fühlt, und in einem Vergleich seiner eigenen Übersetzung von Manzonis Roman mit einigen der mindestens fünfzehn vorhergehenden deutschen Fassungen führt er vor, was das bedeutet. Kroeber nähert sich damit dem an, was Cesare De Marchi in einem einleitenden Beitrag als die Imitation einer Bewegung der Worte des Originals mit den Worten der Zielsprache bezeichnet hatte, die nicht den Versuch bedeute, identische Worte in der Zielsprache zu finden.

Am Beispiel der italienischen Autoren, die in italianistischen Lehrveranstaltungen der letzten dreißig Jahre an deutschsprachigen Universitäten am häufigsten behandelt wurden, führt Michael Rössner noch ein weiteres bedenkenswertes Kriterium für die Kanonbildung ein. Doch handelt es sich bei den universitär kanonisierten Autoren um einen „Club der toten Dichter“, wie Rössner sagt, in den auch außerhalb des universitären Unterrichts so bekannte Namen wie Umberto Eco oder Andrea Camilleri noch keinen Eingang gefunden haben. Insgesamt illustrieren alle Beiträge die eingangs angesprochene Bedeutung von Übersetzungen für die Kanonisierung literarischer Texte. Die Neuübersetzung wäre dann ein wichtiges Kriterium für die Frage, welche Werke jeweils aktuell noch dazu gezählt werden oder in welche Richtung der Kanon sich eventuell verändert oder erweitert.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Barbara Kleiner / Michele Vangi / Ada Vigliani (Hg.): Klassiker neu übersetzen. Zum Phänomen der Neuübersetzungen deutscher und italienischer Klassiker.
Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2014.
147 Seiten, 29,00 EUR.
ISBN-13: 9783515103589

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