Zur Topik Digitaliens

Valentin Groebners schmutzige Ideengeschichte der Wissensgesellschaft

Von Julia AmslingerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julia Amslinger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eines der umfangreichsten Speicherprojekte der Menschheitsgeschichte wurde nicht in den Schaltzentralen der Firma Google im Silicon Valley erdacht, sondern in Pekings Verbotener Stadt. Das ausgehende 18. Jahrhundert war in China Höhepunkt des Wissenschaftsmanagements, wie Valentin Groebner in seinem gelehrten und unterhaltsamen Essay „Wissenschaftssprache digital. Die Zukunft von gestern“ ausführt. Als auf Geheiß des Manchu-Kaisers Quianlong im großen Stil an einer Textsammlung allen Weltwissens gearbeitet und dieser Ertrag von mehr als zwei Millionen feinst kalligraphierten Seiten in sieben Kopien gesichert wurde, emergierte damit eine Informationsmaschine, deren Ziel nicht allein die Bewahrung, sondern – George Orwell vorwegnehmend – die Implementierung eines genuin neuen Wissens war, das alle älteren  Überlieferungen der Manchu-kritischen Schriftkultur gleichsam auslöschen sollte.

Erst im Jahr 2010 übertraf die gemeinschaftlich verfasste Online-Enzyklopädie Wikipedia in der Anzahl der in ihr enthaltenen Wörter die chinesische Büchersammlung Siku Quanchu. Das gigantische analoge Papierprojekt wurde zum historischen Dokument aus ferner Zeit, das über Probleme von Vergessen und Erinnern, Speichern und Überschreiben Auskunft geben kann und – so Groebners Selbstbeschreibung als Geschichtswissenschaftler – „eine bestimmte Art von Fragen erlaubt: unpassende.“

Groebner blickt in den „großen Rückspiegel“ der Kulturgeschichte und sieht dort neben den chinesischen Ordnungen der Dinge viele wundersame Gegenstände und Menschen. So trifft er auf die Medienkritiker Johann Wolfgang von Goethe und Erasmus von Rotterdam, betrachtet Leibniz’ Zettelassemblagen und bastelt aus Untergangsprophetien Zeitmaschinen, um eine kurze und betont „schmutzige“ Ideen-(Vor)geschichte des digitalen Zeitalters zu erzählen. Dabei versteht sich der Essay selbst als Lückenfüller, denn Groebner widmete sich in seinem (ebenfalls bei Konstanz University Press erschienenen) Buch „Wissenschaftssprache: Eine Gebrauchsanweisung“ schon einmal kurz der Frage nach der Wissenschaftssprache im Zeitalter des Internets. Diese knappen Überlegungen bettet Groebner nun in einen weit gefassten historischen Zusammenhang und befragt im Modus der longue durée die „barocken Metaphern von der Wundermaschinenwelt der Information“. Groebner enthält sich in seinem Essay jeglicher Hysterie, beschwört weder die revolutionäre Kraft des Medienwandels, noch warnt er vor den Gefahren der digitalen Zukünfte. Vielmehr ist es ein Buch über Bildlichkeiten, über Ideen und über Wörter geworden, mit denen eine Gesellschaft sich über Innovationen verständigt und darüber, wie Gemeinschaften (in diesem Fall: Akademiker) mit technischen Neuerungen ihrer Kommunikationswege umgehen.

Vor dem Auge des Lesers erhebt sich aus dem Meer der Wissens- und Informationsgeschichte ein eigenes Land: Digitalien. Dieses Land, so liest man es allenthalben, sei bevölkert von Ureinwohnern (digital natives) und Zugereisten (digital immigrants). Groebner, sich selbst eher der Immigranten-Klasse zurechnend, zeigt in seinem Essay, dass dieses vermeintlich neue und gelobte Land nicht so neu, kein abgeschotteter Inselstaat mit imperialistischen Ambitionen ist und seine Bewohner eigentlich alle Migranten sind. Digitalien ist zwar überall – das Papier schrumpft aber noch nicht, denn wir alle haben eine doppelte Staatsbürgerschaft, leben mit Hauptwohnsitz in Analogien und sind umwoben von einer Kultur, die sowohl Wissenschaftsblogs und Hypertexte als auch gebundene Bücher mit Lesebändchen zum Anfassen produziert. Dem Leser dieser digitalen Rezension wird dringend empfohlen, Groebners Buch aus dem Regal zu nehmen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Valentin Groebner: Wissenschaftssprache digital. Die Zukunft von gestern.
Konstanz University Press, Konstanz 2014.
176 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783862530496

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