Ins Herz der Dunkelheit

Die Reportagensammlungen „Verdammter Süden“ entführt den Leser an reale Orte Lateinamerikas, die wie überspannte Fiktion wirken

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am Anfang sollte eine Kritik am Verlag stehen, der diese Reportagensammlung auf den ersten und auch zweiten Blick nicht als solche zu erkennen gibt. „Verdammter Süden“  trägt den Untertitel „Das andere Amerika“ und wirkt zunächst wie eine Sammlung zeitgenössischer lateinamerikanischer Kurzgeschichten, „lebenspralle, wirklichkeitsgesättigte, mitreißende Geschichten“ wie der Klappentext reißerisch mitteilt, über ein Amerika, das „heute pulsierender, rätselhafter, brutaler, bizarrer, schöner, mit einem Wort: spannender denn je“ ist. Dass es sich beim Inhalt um journalistische Reportagen handelt, verschweigt der Verlag zunächst, man muss schon das Nachwort der Herausgeber Carmen Pinilla und Frank Wegner lesen, um dies herauszufinden. Oder eben die Texte. Die aber haben es in sich.

In der dritten Staffel der US-Serie „Homeland“ fällt eine Episode aus dem Rahmen, nicht nur, weil die mit der mittlerweile fest verankerten Erzählästhetik völlig bricht, sondern auch, weil sie wie ein surrealer Fiebertraum wirkt: Der flüchtige, mutmaßliche Terrorist Nicholas Brody wurde in der Folge zuvor außer Landes und mit Hilfe einer ihm ergebenen CIA-Agentin nach Venezuela geschafft, wo er von zwielichtigen, bewaffneten Gestalten an der Grenze aufgelesen wird. Die besagte Folge, die den Namen „Tower of David“ trägt, zeigt nun, für die Serie höchst untypisch, einen einzelnen Handlungsstrang, der damit beginnt, wie Brody von den dunklen Gesellen an einen zunächst unbekannten Ort, die Tiefgarage eines Hochhauses in Caracas, gebracht wird, wo er verarztet wird. Als er morgens erwacht, findet er sich hoch oben in einem nur partiell fertig gestellten, riesigen Hochhaus wieder: Lediglich der Grundkern des Gebäudes steht, es gibt kaum Außenwände, natürlich keine Fenster oder Türen, jedoch ein paar die wohl geplanten Wohnungen trennenden Wände sowie ein Treppenhaus. Mit jedem Schritt kann man ins Nichts laufen und in die Tiefe stürzen. Und doch wohnen nicht nur Menschen in diesem Gebäude, es hat sogar eine eigene Infrastruktur, etwa mit kleinen Geschäften oder einem Hausarzt. Und hier wohnen, anders als zuvor vermutet, auch keine Drogensüchtigen, Obdachlosen oder sich versteckende Kriminelle, sondern, wie Brody im Laufe der Folge erfährt, normale Familien aus dem Mittelstand, die sich die teuren Mieten nicht mehr leisten können. Der Zuschauer denkt zunächst an eine brillante Idee der Drehbuchschreiber, so dicht wirkt die Inszenierung dieses ja doch fiktiven menschlichen Biotops. Jedoch ist es keine Fiktion: Die ‚Torre de David‘ steht wirklich in Caracas, sie war das Projekt eines reichen Investors, der während der Bauarbeiten verstarb. Der Turm wurde einfach stehengelassen und wurde als kostenlose Wohnalternative in einer Stadt entdeckt, in der die Armut immer mehr auch vom Mittelstand Besitz ergriffen hat.

Was das alles mit „Verdammter Süden“ zu tun hat? Genau dieses Beispiel wählen die Herausgeber als Ausgangspunkt für ihre Sammlung von Reportagen aus ganz Lateinamerika, gerade weil es, so Pinilla und Wegner, aufgrund der hohen weltweiten Popularität der Serie „Homeland“ die Existenz dieses anderen, irreal erscheinenden Lateinamerika ein wenig ins Bewusstsein der westlichen Welt gerückt hat. Nun soll gezeigt werden, dass der ‚Torre de David‘ nur einer jener unwirklichen Orte ist, die in diesem doch so mysteriösen Kontinent recht häufig vorkommen.

Einige sind dabei bekannt: Ciudad Juárez, die wohl gefährlichste Stadt der Welt, in der seit Jahren hunderte mysteriöse, ungeklärte Frauenmorde die Menschen ängstigen, und die in Gestalt von „Santa Teresa“ auch in Roberto Bolanos Roman „2666“ im Mittelpunkt steht. Auch die Wüste von Arizona, direkt hinter der Grenze zwischen den USA und Mexiko ist als Ort des Schreckens bekannt, an dem dutzende illegaler Einwanderer in der Endlosigkeit der Wüste ihren Tod fanden und man immer wieder auf skurril angeordnete Leichen stößt.

Doch es sind gerade jene nicht so bekannten Orte Lateinamerikas, an denen wundersame, schreckliche oder auch skurrile Dinge geschehen, die an dieser Reportagensammlung so faszinieren: Da ist einmal die bolivianische Stadt El Alto, in der, auf 4100 Metern Höhe, sich eine ganze Szene an ‚Luchadoras‘ gebildet hat, weibliche Wrestlerinnen nach dem Vorbild der ohnehin für europäische Geschmäcker schon reichlich sonderbaren ‚Lucha Libre‘ Mexikos, die sich als ‚Cholitas‘ bezeichnen, weil sie ausschließlich in bolivianischer Landestracht kämpfen. Die Bolivianer, so lernen wir, sind ganz verrückt danach.

Wir lernen den Ort El Islote kennen, eine winzige Insel vor der Küste Kolumbiens, auf der allerdings die mit Abstand höchste Populationsdichte des Landes herrscht. Der Grund ist einleuchtend: Da die Insel nur ein winziges Fleckchen Erde im karibischen Meer war, die von den Bewohnern noch ein wenig künstlich aufgeschüttet wurde, gibt es hier, anders als auf allen benachbarten, weitläufigeren und auch schöneren Inseln, keine Moskitos. Da es leider auch keinen Platz gibt, muss das örtliche Fußballteam zu jedem Training etwa in Kanus zur Nachbarinsel paddeln.

Eine andere Insel, San José bei Panama, hat es aus traurigeren Gründen zu Ruhm gebracht: Während des Zweiten Weltkriegs testeten die USA hier neueste Chemiewaffen. Da nur ein Bruchteil der Bomben tatsächlich explodierte, ist das paradiesische Eiland von Blindgängern regelrecht übersät; nur, dass dies jahrzehntelang weder von US-Seite noch von der Panamaischen Regierung öffentlich gemacht wurde. Nichtsdestotrotz stehen auf der Insel Luxushütten für Urlauber. Guido Bilbaos Reportage ist eine faszinierende Zusammenfassung von 60 Jahren bilateraler Beziehungen, die von Lügen und politischer Erpressung geprägt sind, und die zeigen, warum der Lateinamerikanische Kontinent lange Zeit als ‚Hinterhof‘ der USA bezeichnet wurde.

Auch andere Geschichten werden hier erzählt: Etwa die von dem Dorf im brasilianischen Dschungel, in dem jedes zehnte geborene Kind einen Zwilling hat; seit Jahrzehnten wird gemutmaßt, dass der dort untergetauchte Josef Mengele seine Menschenversuche durchführte. Oder sind die vielen Zwillinge nur eine Lüge, um Touristen anzuziehen? Nicht zu vergessen der mythische Zoo des kolumbianische Drogenbosses Pablo Escobar, aus dem zwei liebeshungrige Nilpferde entflohen sind. Oder Martín Caparros faszinierender Bericht vom Dreiländereck bei den Iguazú-Wasserfällen.

„Verdammter Süden“ ist ein umfangreiches, faszinierendes Portrait des lateinamerikanischen Kontinents, das anhand seiner symbolische Orte gezeichnet wird, das jedoch auch an zwei Stellen Kritik einstecken muss: Erstens sind die meisten Reportagen leider veraltet; sie stammen zu großen Teilen vom Beginn der 00er Jahre, was man ihnen in Teilen auch anmerkt, da sie oft nicht mehr die politische Aktualität reflektieren. Zweitens ist der überproportionale Anteil an Berichten aus Kolumbien und Argentinien zu kritisieren, was auf die Beschränkung auf nationale (kolumbianische und argentinische) Medien als Quellen zurückzuführen ist. So hätte man gerne mehr über seltsame Orte in Chile, Ecuador, Paraguay oder Uruguay erfahren, statt immer wieder in der kolumbianischen Provinz oder in Buenos Aires zu landen. Doch vielleicht kann dies auch als Anregung für einen möglichen zweiten Teil verstanden werden. Denn dieser sollte auf jeden Fall so schnell wie möglich folgen!

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Frank Wegner / Carmen Pinilla (Hg.): Verdammter Süden. Das andere Amerika.
Übersetzt aus dem Spanischen, dem brasilianischen Portugiesisch und dem amerikanischen Englisch von Frank Wegner.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2014.
315 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783518071205

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