Streitbarer Philosoph und öffentlicher Intellektueller

Zum 85. Geburtstag von Jürgen Habermas erscheint die bislang umfassendste Biographie des Philosophen

Von Dieter KaltwasserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dieter Kaltwasser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kein Gegenwartsphilosoph findet weltweit eine solche Aufmerksamkeit wie Jürgen Habermas, der am 18. Juni 85 Jahre alt wird. Die Anerkennung und Wertschätzung, die sein Werk erfährt, ist immens. Der Geist der Aufklärung und der Moderne sind in ihm genau so gegenwärtig wie die Erinnerung an die Niederlagen des Fortschritts in den Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Der Philosoph und streitbare öffentliche Intellektuelle wird als „Verfechter der Demokratie“ und das „öffentliche Gewissen der Bundesrepublik“ beschrieben. Stefan Müller-Doohm hat jetzt die erste umfassende Biografie über den deutschen Philosophen vorgelegt. Bereits vor zehn Jahren hat der emeritierte Oldenburger Soziologieprofessor ein vielbeachtetes Portrait über Theodor W. Adorno sowie vor sechs Jahren eine knappe Einführung in Leben, Werk und Wirkung von Habermas verfasst.

Die neue Darstellung der Vielfältigkeit des Denkens, Schaffens und Wirkens von Jürgen Habermas auf seinem Lebensweg ist gelehrt und detailliert. Sie wirft einen profunden Blick in die philosophische „Lava des Gedankens im Fluss“ und zeigt, wie sich im öffentlichen Raum intellektuelle Diskursgemeinschaften bilden und Einzelpersonen zu Schmelztiegeln und Projektionsflächen intellektueller Bewegungen werden.

Habermas habe „hohen Nachrichtenwert“, so sein Biograph, und schaue man sich sein Wirken als Philosoph, Soziologe und Diagnostiker des Zeitgeschehens an, dann könne man sich über zu wenig mediale Aufmerksamkeit oder Publizität kaum beklagen. Wozu dann aber noch eine Biographie schreiben, in einer Zeit, „von der Habermas selber sagt, sie habe Helden ebenso wenig nötig wie Antihelden“. Müller-Doohm glaubt, dass sich die „Dialektik von Individuum und Gesellschaft“ an Habermas‘ Vita besonders gut studieren lasse.

Erzählt wird das Leben des Philosophen mit seiner Kindheit und Jugend in Gummersbach während der NS-Zeit, dem Studium und dem Beginn der akademischen Karriere im Nachkriegsdeutschland bis hin zu seiner Rolle als Protagonist und Kritiker der 68er Bewegung. Das Buch schildert Habermas als international geschätzten Denker und das Wechselverhältnis von Lebens- und Werkgeschichte vor dem Hintergrund der Zeitgeschichte bis in die Gegenwart hinein.

Habermas studiert an den Universitäten Göttingen, Zürich und Bonn Philosophie, Psychologie, Deutsche Literatur und Ökonomie und promoviert in Bonn, wo er der „Welt der alten deutschen Universität“ begegnet. Nach seinem Studium arbeitet er zunächst als freier Journalist für die „FAZ“ und den „Merkur“, bis er 1956 von dem aus dem Exil zurückgekehrten Theodor W. Adorno zur Mitarbeit am wieder eröffneten Institut für Sozialforschung in Frankfurt/Main eingeladen wird. Der Gründungsvater der Kritischen Theorie, Max Horkheimer, schreibt in dieser Zeit einen skandalösen Brief an seinen Freund Adorno, in dem er Habermas der theoretischen Unzuverlässigkeit beschuldigt und sich über dessen „blinde“ Bindung an den jungen Marx ereifert. Hinter Begriffen wie „soziale Demokratie“ wittert Horkheimer Rebellion und Aufstand. Habermas ist enttäuscht und habilitiert sich in Marburg bei Wolfgang Abendroth. Wenige Jahre später kehrt er, nach einer Professur in Heidelberg, nach Frankfurt zurück.

1971 verlässt er abermals Frankfurt und leitet gemeinsam mit Carl Friedrich von Weizsäcker in Starnberg das Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt. Hier entsteht sein Hauptwerk, die „Theorie des kommunikativen Handelns“, das er 1981 veröffentlicht und mit dem er in den achtziger Jahren Weltruhm erlangt. Wirkungsmächtig sind neben der „Theorie des kommunikativen Handelns“ die Bücher „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (1962), „Theorie und Praxis“ (1963), „Erkenntnis und Interesse“ (1968) und später „Der philosophische Diskurs der Moderne“ (1985), „Faktizität und Geltung“ (1992), die beiden Bände „Nachmetaphysisches Denken“ (1988, 2012) sowie der aufsehenerregende Großessay „Zur Verfassung Europas“ (2012).

Auf den mehr als ein Jahrhundert zurückliegenden, durch Horkheimers Brief verursachten Skandal geht die neue Biographie zwar ein, sie macht aber nicht ausreichend deutlich, welche symptomatische Bedeutung er für das angemessene Verständnis von Habermas und seiner marxistischen Wurzeln auch später noch hat. Habermas Werk, so betont der Frankfurter Philosoph Axel Honneth im Jahr 2009, habe sich zwar seit fünfzig Jahren sachlich und konzeptionell ausdifferenziert, es setze sich mit vielen anderen Denkrichtungen und Autoren auseinander, darunter Weber, Mead, Durkheim, Rawls und Parsons, so dass der marxistische Glutkern des Anfangs darin kaum noch zu erkennen sei. Doch dieser nie ganz erloschene Kern bilde bis heute einen wesentlichen Motivationsgrund seiner ganzen Theorie. Marx‘ Idee der Notwendigkeit der vernünftig-praktischen Aufhebung fortwirkender Fremdherrschaft lasse sich in Habermas reifer Theorie der Vernunft wiederfinden. Nämlich als Vernunftanspruch, der in den kommunikativen Strukturen der Lebenswelt selbst angelegt ist. Auch seine Rolle als streitbarer öffentlicher Intellektueller steht unter diesem Vernunftanspruch, wie sein unermüdliches, Konflikte nicht scheuendes Eintreten für die Idee Europas deutlich werden lässt. Der Denker gibt selbst das Motto dazu: „Es ist die Reizbarkeit, die Gelehrte zu Intellektuellen macht.“

Neben der großen Biographie ist auf eine elektronische Publikation der „Blätter für deutsche und internationale Politik“ hinzuweisen, deren langjähriger Mitherausgeber Jürgen Habermas ist. Anlässlich seines 85. Geburtstages werden sämtliche Texte publiziert, die in den »Blättern« von und zu ihm erschienen sind. Dazu zählen Beiträge seiner ehemaligen Assistenten Oskar Negt, Claus Offe, Ulrich Oevermann, Albrecht Wellmer und Axel Honneth ebenso wie die seiner engsten Frankfurter Mitarbeiter Ingeborg Maus, Klaus Günther und Rainer Forst. Die Habermas-Schülerin Seyla Benhabib und der japanische Philosoph Ken‘ichi Mishima berichten über die globalen Resonanzen des Werkes von Habermas in der westlichen und in der östlichen Hemisphäre. Die Beiträge thematisieren Auseinandersetzungen, in die Habermas als Philosoph und öffentlicher Intellektueller verwickelt war: die Studentenbewegung, der Positivismus- und der Historikerstreit, der Disput mit Niklas Luhmann sowie sein Eintreten für eine demokratische und soziale Europäische Union und gegen die „technokratischen Lösungen“ einer kleinen „Funktionselite“ der europäischen Länder.

Als Jürgen Habermas im Jahre 1988 seinen ersten Band mit Aufsätzen und Beiträgen zur Thematik eines „nachmetaphysischen Denkens“ veröffentlichte, ging es ihm um eine „Selbstvergewisserung philosophischen Denkens“. Vor allem in den „letzten Jahren hat sich Habermas immer wieder auf Gespräche mit exponierten Vertretern der westlichen Religionsphilosophie und Theologie eingelassen“, so Müller Doohms gegen Ende seiner Biographie. Habermas bezeichnet sich selbst gerne mit einem Wort Max Webers als „religiös unmusikalisch“.

Die Philosophie verlor ihr Privileg eines extramundanen Zugangs zur Erkenntnis und ihre Prinzipien wurden detranszendentalisiert, so der Philosoph. Das Selbstverständnis zeitgenössischer Philosophie umfasst ihre Beziehung zur religiösen Überlieferung und zur Rolle der Religion im politischen Kontext einer postsäkularen, liberalen Gesellschaft. Mit Rawls, der als erster der großen politischen Philosophen den weltanschaulichen Pluralismus ernst genommen und eine Debatte über die Position der Religion in der Öffentlichkeit eröffnet hat, stimmt Habermas darin überein, dass die Glaubensgemeinschaften für den säkularen Verfassungsstaat nach wie vor Relevanz besitzen.

Das kollektive Selbstverständnis eines demokratischen Gemeinwesens darf von der Tatsache einer pluralistischen Zusammensetzung der Zivilgesellschaft nicht unberührt bleiben und sollte eine politische Kultur herausbilden, die über die jeweilige „Mehrheitskultur“ hinauswächst, damit sich alle Bürger mit ihr identifizieren können. Für dieses Ziel muss, so Habermas, eine „Polyphonie der öffentlichen Stimmenvielfalt“ gewährleistet sein. Den Bürgern in der politischen Öffentlichkeit stehe es frei, eine religiöse Sprache zu verwenden, allerdings müssten sie akzeptieren, dass der semantische Gehalt ihrer Äußerungen in eine öffentlich zugängliche Sprache übersetzt wird. Habermas betont allerdings auch, dass säkulare Bürger aus fundamentalistischen Lehren, die mit dem Faktum der Pluralität nicht zurechtkommen, nichts lernen können und dass es keinen Grund gibt, „gegen die neoliberale Entsolidarisierung der Gesellschaft nun blindlings auf die Motivationskräfte der Religionen zu setzen.“ Eine ihrer eigenen Grenzen bewusste Aufklärung muss sich nicht davor scheuen, den Prozess der „Übersetzung nicht eingelöster Potentiale aus den Weltreligionen“ voranzutreiben.

Die Biographie von Stefan Müller Dohms zeigt, welche singuläre Gestalt Habermas für das zeitgenössische Denken ist. Habermas vermag es wie kein anderer Philosophie, Soziologie, Geschichte, Rechts- und Politikwissenschaft und Theologie in einen interdisziplinären Dialog einzubinden und sowohl neue wie verschüttete Denkwege aufzuzeigen.

Hinweis:

Der Aufklärer Jürgen Habermas – Zum 85. Geburtstag, Edition Blätter. Blätter Verlagsgesellschaft, Berlin 2014. Zum E-Book: www.blaetter.de/ebook-habermas

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Titelbild

Stefan Müller-Doohm: Jürgen Habermas. Eine Biographie.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2014.
784 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783518424339

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