Zusammenprall der Kulturen

Rudyard Kipling erzählt in „Falsche Dämmerung“ vom Leben der Engländer in Indien

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

 „Sie war die Tochter von Sonu, einem Bergmenschen aus dem Himalaya, und seiner Frau Jadeh. In einem Jahr gedieht ihr Mais nicht, und zwei Bären verbrachten die Nacht in ihrem einzigen Mohnfeld, knapp oberhalb des Sutlej-Tals auf dem Kotgarh-Ufer; deshalb wurden sie im folgenden Jahr Christen und brachten ihr Baby zur Mission, um es taufen zu lassen.“ Elizabeth hieß das Kind, „Lispeth“. Als die Eltern starben, wurde Lispeth Dienerin bei der Frau des Missionars, sie wuchs heran zu einer schönen jungen Frau.

Eines Tages, als sie siebzehn Jahre alt war, fand sie auf einer ihrer Wanderungen einen bewusstlosen Mann, den sie ins Tal schleppte und auf das Sofa legte und sagte: „Das ist mein Mann. Ich habe ihn auf der Straße nach Bagi gefunden. Er hat sich weh getan. Wir werden ihn pflegen, und wenn er gesund ist, wird Ihr Mann ihn mit mir vermählen.“ Aber es war ein Engländer, ein Weißer. Und das sollte nicht sein.

Es ist eine kleine, leichte, unschuldig daher kommende Erzählung, die den neuen Band mit Kurzgeschichten von Rudyard Kipling eröffnet. Aber eine mit Hintersinn in jedem Absatz. Die Protagonistin pflegt den jungen Mann, der auch wieder gesund wird, und er „beeilte sich nicht sehr mit der Abreise“. Er flirtet mit ihr, obwohl er in England verlobt ist, und als er fährt, bat die Missionarin ihn, Lispeth zu sagen, dass er zurückkommen werde. Aber er kommt nicht. Drei Monate später gesteht die Missionarin, dass er nicht zurückkehren wird, dass er sie belogen hat. Und Lispeth zieht die Kleidung der Bergmenschen an und geht zu ihrem Volk zurück.

Rudyard Kipling, englischer Erzähler, Nobelpreisträger, Autor von „Das Dschungelbuch“ und „Kim“, den schönsten Bücher, die je über Indien geschrieben wurden, Kipling ein Imperialist? Das wird immer wieder behauptet, aber wohl nur von Menschen, die seine Bücher nie richtig gelesen haben. Leider ist es auch kaum möglich, denn das meiste von ihm wurde nie übersetzt, seine Gesamtausgaben umfassen etwa 36 Bände. Seine Geschichten, auch die in „Falsche Dämmerung“, sind subtil gesponnen, und oft wird eher die Überlegenheit der Inder deutlich, emotional durch ihre Direktheit und Sensibilität und auch körperlich: „Auf ihre kleinen Erfrischungsgängen legte sie zwanzig bis dreißig Meilen zurück“, heißt es nicht ohne Ironie von Lispeth.

Kipling erzählt vom Leben der Engländer in Simla, der Sommerfrische in den Bergen, vom Leben der Inder, die er so gut kannte wie kein anderer, vom leisen und manchmal lauten Zusammenprall der Kulturen, vom Kampf der Geschlechter, den meistens die Frauen gewinnen, vom Soldatenleben und der alles überwältigenden Natur in diesem Subkontinent. Er beherrscht dabei jeden Ton spielend, kann mit einem Wort einen ganzen Charakter entwerfen, spielt mit Dialekten und Soziolekten auf eine Weise, die kaum ein englischer und erst recht kein deutscher Autor je so gemeistert hat, und das alles so durchkomponiert, dass man gar nicht merkt, dass diese einfachen Geschichten voller stilistischer Feinheiten sind.

Leicht und genau übersetzt und kommentiert von Gisbert Haefs könnte diese Ausgabe wieder einmal ein Anstoß sein, Kipling neu zu entdecken. Es lohnt sich.

Titelbild

Rudyard Kipling: Falsche Dämmerung. Geschichten aus Indien.
Übersetzt aus dem Englischen von Gisbert Haefs.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2014.
350 Seiten, 10,99 EUR.
ISBN-13: 9783596905829

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