Von der Macht über Leben und Tod

Andreas Folkers und Thomas Lemke legen einen Reader zu Michel Foucaults Biopolitik-Begriff und dessen vielfältiger Rezeption vor

Von Jonas ReinartzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jonas Reinartz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Die Fortpflanzung, die Geburten- und die Sterblichkeitsrate, das Gesundheitsniveau, die Lebensdauer, die Langlebigkeit mit allen ihren Variationsbedingungen wurden zum Gegenstand eingreifender Maßnahmen und regulierender Kontrollen: Bio-Politik der Bevölkerung.“ Man könnte sicherlich auch ein anderes Zitat wählen, doch dieses sollte genügen, um Michael Foucault Konzept der Biopolitik kurz zu umreißen.

Während sich die souveräne Macht zuvor darüber definierte, über Leben und Tod zu entscheiden, rückte ab dem 18. Jahrhundert das Leben selbst in den Fokus, so Foucault. Diese faszinierende These fand natürlich Widerhall. Der kürzlich erschienene Sammelband „Biopolitik. Ein Reader“ bietet einen mit Bedacht ausgewählten Querschnitt über die Biopolitik(-Rezeption) und dürfte sich zum Standardwerk entwickeln.

Den diskursiven Linien wird eine Rezension wohl kaum beikommen können. Sie wird sich daher auf wenige Schlaglichter beschränken. Die Herausgeber Thomas  Lemke (Verfasser von „Biopolitik. Eine Einführung“) und Andreas Folkers gliedern den Band in fünf Abschnitte, denen eine einsteigerfreundliche und sehr lesenswerte Einleitung vorangestellt ist. Auch absolute Foucault-Neulinge werden sich hier nicht verloren vorkommen. Zunächst erfolgen drei „kanonische“ Auszüge aus Foucaults Werk – das Schlusskapitel aus „Der Wille zum Wissen“, die Vorlesung vom 17. März 1976 sowie die Zusammenfassung „Die Geburt der Biopolitik“.

Danach folgen Kapitel zur Kontrollgesellschaft und Postmoderne, affirmativen Biopolitik und Ökonomisierung des Lebens. Dementsprechend sind die Namen der Autoren, die man erwarten durfte, auch vorhanden: Gilles Deleuze, Donna Haraway, Giorgio Agamben, Michael Hardt, Antonio Negri, Paul Rabinow, Nikolas Rose und Melinda Cooper.

Angesichts des „Dschungel[s] der Foucault-Sekundärliteratur“ (Philipp Sarasin) wird wohl jeder Herausgeber einer die Rezeption wiederspiegelnden Aufsatzsammlung vor die üblichen Probleme gestellt, doch die vorliegende Auswahl ist klug und zweifellos repräsentativ. Über manche Texte und ihre Autoren ließe sich trefflich streiten, doch wesentlich interessanter sind die beiden Entdeckungen, die den Herausgebern hoch anzurechnen sind.

Zum einen ist der in Neapel lehrende Philosoph Robert Esposito zu nennen. In deutscher Sprache sind gerade einmal drei seiner fünfzehn Werke verfügbar, „Bios: biopolitica e filosofia“ liegt seit 2010 immerhin in Englisch vor. Diese Ausgabe sei nachdrücklich empfohlen, da sie zudem eine exzellente ausführliche Einleitung des Übersetzers Timothy Campbell enthält. In dieser situiert er Esposito zu Recht in Opposition zu sowohl Agamben als auch Negri/Hardt, also negativer und affirmativer Biopolitik.

Es bleibt zu hoffen, dass der Abdruck des zweiten Kapitels in erstmaliger deutscher Übersetzung letztlich den Anstoß zu einer kompletten Übertragung bedeutet. Wie der chronisch Unterschätzte mit dem Fokus auf das für ihn zentrale „Paradigma der Immunisierung“ klassische Autoren der politischen Theorie wie Hobbes und Locke neu liest, erreicht zwar nicht die „Sprezzatura“ eines Agamben, vermag jedoch durchweg zu fesseln.

Daneben hinterlässt Achille Mbembes Beitrag zur „Nekropolitik“ bleibenden Eindruck. Dem hierzulande wenig bekannten kamerunischen Politikwissenschaftler geht es um die schwärzeste Seite der Politik – nämlich um „die verallgemeinerte Instrumentalisierung der menschlichen Existenz und die materielle Zerstörung menschlicher Körper und Bevölkerungen“. Dabei spannt er einen weiten Bogen von der französischen Revolution über die amerikanischen Sklavenplantagen und den Kolonialismus bis zum Apartheidregime und den Nahostkonflikt.

Die von ihm vorgeschlagenen Begriffe der „Nekropolitik“ beziehungsweise „Nekromacht“, die die zeitgenössische „Unterwerfung des Lebens unter die Macht des Todes“ bezeichnen, erscheinen sinnvoll, zumal hier Biopolitik als Konzept tatsächlich nicht mehr auszureichen scheint. Mbembes brillant geschriebener Beitrag hallt nach – trotz seiner Dichte und Abstraktion vermag er emotional zu verstören, nicht zuletzt aufgrund seiner Bezüge zur Grausamkeit der Gegenwart. Die Relevanz der Biopolitik und seiner überaus produktiven Rezeption ist ungebrochen. Dieser Sammelband ist ein gutes Beispiel hierfür, was auch Deleuzes meisterlicher Aufsatz „Postskriptum über die Kontrollgesellschaften“ zusätzlich unterstreicht.

Titelbild

Thomas Lemke / Andreas Folkers (Hg.): Biopolitik. Ein Reader.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2014.
526 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783518296806

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