Der weiße Fleck des Lebens

Das Erste Gebot in Elias Canettis „Das Buch gegen den Tod“: Du sollst nicht sterben

Von Matthias SchliekerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Matthias Schlieker

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Tod ist der weiße Fleck allen Lebens, das Negativ einer Erkenntnis. „Wer über den Tod geistreiche Dinge sagen kann, wer das über sich bringt, der verdient ihn“. Religionen, Philosophen, Spiritisten, Mystiker, Dichter, der trauernde Witwer, die Mutter, der das Kind genommen wurde – wir lesen ständig davon, tun es fortwährend. Elias Canetti ist kein Zyniker, wenn er dies schreibt. Und „Das Buch gegen den Tod“ ist kein Buch über den Tod, sondern ein Aufbegehren gegen seine Faszination, Anziehung und Macht, die er seit jeher auf uns ausübt; ein Buch, das dem Leben gewidmet ist: „Ich will meine Gedanken zur Verteidigung des Menschen vor dem Tode fassen“. Mit dem Bleistift tritt er dem Tod entgegen.

Wie aus einer Notiz hervorgeht, muss Canetti am 15. Februar 1942 den Entschluss gefasst haben, die Anklage gegen den Tod vorzubereiten. Nahezu fünf Jahrzehnte lang ist er täglich an den Schreibtisch zurückgekehrt, um mit gespitzten Bleistiften Beweise gegen ihn zu sammeln. Doch als er im Sommer 1994 plötzlich einem Herzstillstand erlag, hinterließ er nichts als lose Notizen über das, was er als sein eigentliches Hauptwerk bezeichnete. Auch wenn der handschriftliche Nachlass eine beachtliche Größe von mehreren tausend Seiten ausmacht, die Schriften über den Tod alle anderen Themen bei Weitem überwiegen: Bis auf den Titel und einer konkreten Idee ist von dem Werk nichts herauszulesen – kein Konzept, keine Skizze, keine Struktur, nichts.

Hatte Canetti das fertige Buch überhaupt vor Augen? Es soll für einen Schriftsteller nichts Schlimmeres geben, als über einem unvollendeten Manuskript zu sterben, denn im Gegensatz zu einem noch so verpfuschten Leben, das mit dem Tod endet, wird das letzte Werk für immer unvollendet bleiben. Doch Canetti muss vor der Endgültigkeit seines Projekts genauso zurückgeschreckt sein wie vor dem Gedanken an die Ewigkeit, die der Tod einem öffnet. 1987 notiert er: „Es wird mir immer klarer, daß ich das Buch über den Tod nur schreiben kann, wenn ich ganz sicher bin, daß ich es zu meinen Lebzeiten nicht publiziere. Es soll da sein, oder wenigstens so viel davon da sein, daß es später publiziert werden kann. […] Vielleicht würde es genügen, alle noch unpublizierten Aufzeichnungen über den Tod in chronologischer Folge aneinanderzureihen. […] Ich glaube aber, daß ich die letzten und eigentlich wichtigen Dinge nur sagen kann, wenn ich weiß, daß ich ihre Aufnahme nicht erleben werde“.

Der Hanser Verlag folgt Canettis letztem Wunsch und hat die Notizen von 1942 – 1994 gesichtet und eine Auswahl getroffen und mit einem erklärenden Nachwort von Peter von Matt versehen. Auf 300 Seiten lassen sich die Anstrengungen nachvollziehen, die Canetti in das tägliche Aufbegehren steckte. Etwa zwei Drittel der Texte waren bisher unpubliziert, andere wurden aus früheren Veröffentlichungen, die Canetti zu Lebzeiten selbst herausgebracht hat, übernommen, wie aus „Die Provinz der Menschen“, 1973; „Das Geheimherz der Uhr“, 1987 oder aus“ Die Fliegenpein“, 1992.

Canettis Notizen nehmen selten mehr als eine halbe Seite ein. Oft sind es ein, zwei kurze Sätze, die pointiert, scharf, in aphoristischer Manier einen Gedanken entwickeln. Das Spektrum der Todesgedanken ist riesig. In einem frühen Eintrag klagt Canetti die Glorifizierung des Tötens, das Maß der Geschichtsschreibung, an: „Ganze Städte und Landschaften können trauern, als ob ihnen alle Männer gefallen wären, alle Söhne und Väter. Aber solange 11.370 gefallen sind, werden wir ewig danach trachten, die Million voll zu machen“. Der historische Fortschritt wird bei Canetti zum Einfallstor für unsere Grausamkeit: „Seit er an keinen Teufel mehr glaubt, ist der Mensch gefährlich geworden. Der Mensch sieht den Teufel nicht mehr: Er hat ihn geschluckt“. Aber auch Canettis Zeitgenossen mit ihrer bequemen Kriegsempörung fallen unter die Anklageschrift: „Die Deutschen, die für den Frieden demonstrieren, bevor sie ihre Giftgas-Lieferanten aufgehängt haben“.

Der aussichtslose Feldzug hält neben Ächtung und vernichtenden Worten auch Heiterkeit und Glück für die (Über-)Lebenden bereit. Zwar ist Canetti einem religiösen Totenkult so fern, wie er jenen Religionen vorwirft, das Diesseits im Stich gelassen zu haben – dennoch spenden seine ehrlichen Gedanken über das aufrichtige Gedenken Verstorbener Trost: Erfinde den Toten! Lass ihn in deiner Fantasie werden! Drehen, wenden, Rösselsprünge: Hauptsache die Gedanken an ihn halten niemals still. Selbst das Paaren von Verlassen und Sterben gebärt nicht das größte Leid, dem man uns aussetzten kann, sondern wird bei Canetti zu einem vor Glück strotzenden Paradox, wo das Ausbleiben von Liebe ewige Liebe ist: „Das Glück, einen zärtlichen geliebten Menschen nie wiederzusehen: als würde er ewig leben“. Hier werden Leid und Tod die Zähne gezogen.

„Das Buch gegen den Tod“ ist ein zügelloses Sinnieren gegen den Tod, ein hämisches Hantieren an seinem Leib, voll fiebernder Widersprüche. Es ist Klage und Anklage, komisch und grotesk, genau beobachtet und in surrealer Szenerie gestaltet; logisch und paradox – doch solange Canetti an allen Fronten gegen den Tod anrennen konnte, glaubte er sich immun gegen das Sterben: „Solange ich schreibe, fühle ich mich (absolut) sicher. Vielleicht schreibe ich nur deswegen“. Canetti verstarb am 14. August 1994 im Schlaf. Einen letzten Satz hatte er am Vorabend stenografiert.

Titelbild

Elias Canetti: Das Buch gegen den Tod.
Mit einem Nachwort von Peter Matt.
Carl Hanser Verlag, München 2014.
352 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783446244672

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch