Krankheit als Metapher

Ein von Martina King und Thomas Rütten herausgegebener Sammelband untersucht medizinisch-literarische Topoi

Von Stefana SabinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefana Sabin

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Lange Zeit glaubte man, dass die Götter über die Befindlichkeit und die Gesundheit des Menschen bestimmen, deshalb wurden Beschwörungen und Opfergaben für heilsversprechend gehalten. Allerdings entwarf schon Hippokrates, der Urvater der Medizin, eine eher götterlose Miasmentheorie, nach der manche Ausdünstungen der Erde den Menschen krank machten und, da sie mit der Luft fortgetragen wurden, zur Verbreitung von Krankheiten beitrugen – das war eine erste Theorie der Kontagiosität, der erst Athanasius Kircher im 17. Jahrhundert eine neue Wendung gab, als er in der Luft, im Wasser und in Lebensmitteln winzige Würmer entdeckte und sie verdächtigte, Krankheiten zu verbreiten. Schließlich bestätigten Louis Pasteur und die von ihm eingeleitete bakteriologische Revolution im 19. Jahrhundert die Kontagiosität als Theorie von der Infektionsmöglichkeit und als Lehre von ansteckenden Krankheiten.

Krankheiten und die daraus resultierenden Gefahren wie Epidemien und die darauf reagierenden hygienischen Maßnahmen wie Quarantäne gingen in die Umgangssprache ein: sie wurden Metaphern. Ob die schnelle Verbreitung einer Idee als ideologische Infektion bezeichnet wurde, ob dem Angesteckten eine besondere intellektuelle und kreative Potenz und ganz im Gegenteil eine diabolische Kraft zugerechnet wurde, oder ob ganze Ethnien als ansteckend und also krankheitserregend diffamiert wurden – spätestens seit der Moderne wurde ein regelrechtes medizinisch-mythologisches Gerüst aufgestellt, das gewissermaßen Wissenschaft und ihre literarischen Reflexe zusammenführte.

Die medizinischen und kulturellen Hintergründe, die zur Entstehung dieses Gerüsts geführt haben, werden nun in einem im besten Sinne des Wortes interdisziplinären Essayband beschrieben. Die Medizinerin und Germanistin Martina King und der Medizinhistoriker Thomas Rütten haben zehn Aufsätze gesammelt, die den Zeitraum von 1880, als Pasteur den ersten Impfstoff gegen die Milzbrand-Krankheit entwickelte, und 1933, als die bakteriologische Metaphorik von der nationalsozialistischen Rassenpolitik übernommen wurde, abdecken. Die Essays behandeln Themen wie die literarische Geschichte von Bakterien, Ansteckungskrankheiten als literarische Topoi, die Emotionalisierung übertragbarer Krankheiten in der modernen Literatur, die rhetorische Funktionalisierung der Infektionsgefahr oder die Überlappung des ökonomischen und des sozialen Diskurses über Ansteckung. So entsteht ein medizin- und kulturgeschichtlicher Überblick und werden zugleich einzelne literarische Werke besprochen oder gesellschaftspolitische Fälle beschrieben, die die symbolische Bedeutung der ansteckenden Krankheiten veranschaulichen.

Titelbild

Thomas Rütten / Martina King (Hg.): Contagionism and Contagious Diseases. Medicine and Literature 1880-1933.
De Gruyter, Berlin 2013.
242 Seiten, 99,95 EUR.
ISBN-13: 9783110305722

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