Von Steinböcken und Menschen

Leo Tuor begibt sich in seiner Erzählung „Cavrein“ erneut auf die Jagd

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was macht die Jagd mit dem Menschen? Dieser Frage war der surselvische Schriftsteller Leo Tuor bereits in seinem Roman „Settembrini. Leben und Meinungen“ (deutsch 2011) auf die Spur gegangen. In „Cavrein“ wendet sich der passionierte Jäger Tuor dem Thema noch einmal zu. In 14 Kapiteln, umrahmt von einer Art Einleitung und einem Epilog, berichtet Tuor von einer mehrere Tage andauernden Steinbockjagd im Gebiet der Alp Cavrein, die zum Kloster Disentis in der Bündner Surselva gehört. Der Ich-Erzähler wird dabei von wechselnden Figuren begleitet, die manchmal reale Gestalten sind, die hie und da aber auch der Literatur entlehnt sind. Zuweilen, etwa beim „Kamerad Marad“, beschleichen einen Zweifel, ob der Jagdgenosse nun echt oder bloß eingebildet ist.

Doch letztlich ist dies gar nicht so entscheidend. Bei der Jagd verschwimmen nämlich die Grenzen zwischen Realität und Imagination. Dies kennt man bereits aus „Settembrini“. Überhaupt schließt „Cavrein“ in mancherlei Hinsicht an diesen umfangreicheren Vorgänger an: Wieder reflektiert Tuor über die Kunst des Jagens, wieder zitiert er dabei aus der rätoromanischen und der Weltliteratur. Auch der gewisse gnomische Charakter, ein Stil, der zu aphoristischen Verdichtungen neigt, lässt sich in „Cavrein“ erneut beobachten. In dieser Erzählung mag einem daher zunächst vieles bekannt vorkommen. Doch es lassen sich auch einige Unterschiede benennen: „Cavrein“ ist – seiner ganzen Welthaltigkeit zum Trotz – viel deutlicher zu einem kammerspielartigen Stück geworden, das ständig um den beinahe intimen Zweikampf zwischen Mensch und Steinbock kreist.

Tuor vergisst dabei freilich nicht, dass bei der Jagd im Grunde genommen drei Kräfte oder Faktoren zusammenwirken. Da ist zunächst der Jäger selbst, der beobachtet, abwartet, sich an die Beute heranpirscht, um sie herum schleicht, der – im Fall von Tuors Ich-Erzähler – aber auch sinnt und philosophiert. Dann der Steinbock, der sein eigenes Leben führt, der die ihm drohende Gefahr zwar meist wittert, sie bisweilen aber auch bewusst ignoriert. Und schließlich haben auch die Behörden einen gewichtigen Anteil an der Jagd: In ihrer „Theorie“, in Reglementen und Vorschriften haben die Obrigkeiten die Rahmenbedingungen formuliert und detailliert festgelegt, von wem, wann, wie und wie viel gejagt werden darf. Die Jagd wird damit in die Schranken gewiesen – sehr zum Leidwesen des Icherzählers und des Autors. Leo Tuor lässt es denn auch an Sticheleien gegenüber „Chur“ und dem Kanton nicht mangeln.

Dabei schimmert wiederholt auch Zivilisationskritik durch. Diese mag einem im Grunde ja durchaus willkommen sein. Aber anders als in „Settembrini“ geht hier der ironische Unterton doch manchmal etwas verloren, und Tuors Anwürfe wirken dann bisweilen ein wenig verstockt. In den betreffenden Fällen wird dann kaum mehr argumentiert; in den Behörden wird bloß ein Gegner aufgebaut, der als Spielverderber wahrgenommen und dargestellt wird. Trotzdem blitzt der Humor hier und dort noch auf – etwa in der großartigen Rede zur allgemeinen Belehrung des Jägervolks, die Leo Tuor einem vom Kanton gesandten Wildhüter in den Mund legt: Der Behördenvertreter lässt darin die Geschichte des Graubündner Steinbocks Revue passieren. Das strotzt vor gelungenen Einfällen und witzigen Passagen: „Je älter die Böcke, desto grössere Oblomows werden sie: Typen von lethargischer Haltung, passive Träumer, denen notorisch alles schnuppe ist, bis zu den Steinen, die ihnen an der Nase vorbeisausen“.

Seiner Erzählung hat Tuor eine – wenn auch nicht konsequent durchgehaltene und nur vage motivierte – Schablone unterlegt, nämlich die Schöpfungsgeschichte: „Es wird warm, die Fliegen surren, die Luft flimmert, es wird Mittag, es wird zwei, dann drei, dann vier, es wird Abend, es wird Nacht: der erste Tag“.

Wer will, mag auch hier zuallererst eine gewisse Ironie herauslesen. Gleichzeitig wird dadurch der Text aber wiederum auch in einer größeren Dimension verortet, wird die Jagd in die Menschheitsgeschichte eingeschrieben. Die Anzahl der Kapitel (14) lässt einen überdies an die Stationen des christlichen Kreuzwegs denken. Auch das ist vielleicht ein Versuch, die Jagd in einen weiteren Resonanzraum einzuschreiben und sie als eine Art Passion darzustellen – und zwar in deren doppelter Bedeutung: nicht nur als Leidenschaft, sondern auch als Leidensgeschichte.„Cavrein“ war 2010 im rätoromanischen Original erschienen, allerdings mit der Gattungsbezeichnung Essay. Man könnte mit Fug und Recht aber auch von Aufzeichnungen oder Notizen, von einem Tagebuch oder Jagdjournal sprechen. Der Text schwankt denn auch ständig zwischen Narration und Reflexion. Claudio Spescha hat „Cavrein“ sehr schön ins Deutsche übersetzt. Er ist zum ersten Mal als Übersetzer eines Werks von Leo Tuor aufgetreten und für seine Leistung kürzlich zurecht mit einem Anerkennungsbeitrag des Kantons Zürich belohnt worden.

Die Erzählung „Cavrein“ kommt zwar an die Romane „Giacumbert Nau. Bemerkungen zu seinem Leben“, „Onna Maria Tumera oder Die Vorfahren“ und „Settembrini. Leben und Meinungen“ vielleicht nicht ganz heran. Trotzdem erweist sich Leo Tuor aber auch in „Cavrein“ als einer der interessantesten und vor allem eigenwilligsten zeitgenössischen Autoren der Schweiz.

Titelbild

Leo Tuor: Cavrein. Essay.
Übersetzt aus dem Rätoromanischen von Claudio Spescha.
Limmat Verlag, Zürich 2014.
90 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783857917325

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