Nachdenken in der Krise

Martin Gessmann erklärt, warum wir philosophieren

Von Josef BordatRSS-Newsfeed neuer Artikel von Josef Bordat

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Erschütterungen bringen das Denken voran. Das ist der Ansatz Martin Gessmanns in seinem Buch „Wenn die Welt in Stücke geht. Warum wir philosophieren.“ Weiterhin diagnostiziert er für unsere Zeit einen gewachsenen Bedarf an philosophischen Antworten, eben weil wir uns in einer schwierigen Lage befinden. Das ist sicher richtig, doch stimmt die Implikation? Ist das Philosophieren wirklich die kompetente Bewältigungsstrategie für uns – hier und jetzt?

Gessmann will seine bejahende Antwort durch einen engen Konnex von Krise und Kreativität begründet wissen, den er ideenhistorisch zu belegen versucht. Er schlägt vor, die rein analytisch gewordene Philosophie wieder fruchtbar zu machen für die konkreten Probleme der Gegenwart und betrachtet insbesondere methodologische Fragen, die ihn dazu führen, das Nachdenken im Geiste Platons wieder als „Staunen“ zu begreifen und die Philosophie erneut zu dramatisieren, auf dass sie zu einem Spiel der kreativen Kräfte werde.

Tatsächlich kann die Philosophiegeschichte mit Gessmann als eine Geschichte des Versagens beziehungsweise der Reaktion darauf verstanden werden. Das Prinzip ist einfach: Wenn das tradierte Denken versagt, braucht es neue Ideen. Weltbilder und Deutungsmuster geraten insbesondere durch Naturkatastrophen und in gesellschaftlichen Krisen so stark unter Druck, dass ihre Interpretamente reformuliert werden müssen. Ein typisches Beispiel ist wohl die Transformation der Antworten auf die Frage nach dem Leid in der Welt, die zunächst als Verhandlungen etablierter Gottesbilder verstanden werden (Theodizee), dann zur Kritik technisch-wissenschaftlicher Systeme dienen (Technodizee) und sich schließlich auf den Menschen fokussieren (Anthropodizee).

Wendepunkte im Diskurs lassen sich dort ausmachen, wo sich das bisherige Denken als unbefriedigend erweist. Diese können von katastrophischen Einzelereignissen wie dem Erdbeben von Lissabon (1775) oder dem Reaktor-GAU von Tschernobyl (1986) markiert oder aber aufgrund von Prozessen wie der Umweltzerstörung und dem Klimawandel initiiert werden. Etwas weiter gefasst lässt sich zudem erkennen, dass es vielfältige Arten des Versagens kultureller Formen gibt, die neue Lösungen provozieren.

Umbrüche aus Spannungsverhältnissen heraus treiben die Ideengeschichte an, die immer dort dicht und vital wird, wo der dramatisch-heldenhafte Kampf der Philosophie gesellschaftliche Veränderungen antizipiert. Das Ringen um eine Position angesichts schwerer Erschütterungen kennt die Antike (Mythos vs. Logos) ebenso wie die Moderne (Individuum vs. Gemeinschaft). Der philosophiehistorische Durchlauf, den Gessmann in dieser Perspektive vornimmt, umfasst die gesamte Ideengeschichte, schwerpunktmäßig die Theoretische Philosophie und ihr Problem der Erkenntnis; die Ethik gilt ihm als zu stark ideologieanfällig und die Ästhetik ohnehin bloß als „Luxussegment der Streitigkeiten“.

Gessmanns Auswahl ist sicher subjektiv, aber nicht zufällig, zeigt er doch entlang der betrachteten Denker ( unter anderem Platon, Kant, Wittgenstein, Quine, Sloterdijk) in nachvollziehbarer Weise deren produktive Auseinandersetzung mit den epochalen Krisen ihrer Zeit und weist dabei die enge Verzahnung von Ideen- und Sozialgeschichte auf: An markanten Punkten der europäischen Geschichte (1789, 1870, 1968) ändern sich mit den gesellschaftlichen und politischen Vorstellungen zugleich auch die damit in einer engen Wechselbeziehung stehenden „Denkungsarten“ (Kant).

Diese Veränderung braucht es nach Ansicht des Verfassers auch heute. Gessmann schlägt anknüpfend an Rheinberger und Latour beziehungsweise Stiegler und Münker für die Natur- und die Medienwissenschaften neue methodologische Ansätze vor, um schließlich daraus den Gedanken einer geisteswissenschaftlichen „Hermeneutik der Zukunft“ zu entwickeln, die keine „Nacharbeit“ mehr sein soll, sondern fragen muss, „was uns noch alles bevorsteht und eröffnet wird an möglichen Sinnpotenzen“. Der Text werde dabei vom Untersuchungsgegenstand zu einem Akteur, zu dem sich soziale Beziehungen entwickeln lassen. Der Weg der Philosophie führt damit weg von der reinen Analyse, hin zu einer neuen Kreativität und Offenheit im Umgang mit der Ideengeschichte.

Wenn die Welt „in Stücke geht“, hilft also das Staunen darüber entscheidend mit, die Teile wieder zusammenzufügen – nicht so, wie zuvor, sondern neuartig. Gessmanns Programm für eine zeitgenössische Philosophie ist anspruchs- und reizvoll zugleich: Anspruchsvoll, weil sie die Kenntnis der Traditionen voraussetzt, reizvoll, weil sie dem, der philosophiert, in Aussicht stellt, wirklich etwas bewirken zu können – im kenntnisreichen Bruch mit der methodologischen Tradition. Sein Vorschlag wird dabei gerade zu einem Beispiel für Krisenbewältigung – nämlich für die Bewältigung der Krise der akademischen Philosophie höchstselbst. Wenn die Philosophie „in Stücke geht“, so könnte man sagen, hilft ebenfalls nur das radikale Umdenken, in Gestalt eines methodischen Neuarrangements. So betrachtet wirkt Martin Gessmanns mutige These in sich schlüssig.

Titelbild

Martin Gessmann: Wenn die Welt in Stücke geht. Warum wir philosophieren.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2014.
284 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783770556588

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