Der letzte Spaziergang auf dem Chemin des Dames

Éric Vuillard hat mit seiner „Ballade vom Abendland“ eine faszinierende Rhapsodie über den Ersten Weltkrieg geschrieben

Von Michael KurzmeierRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Kurzmeier

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Nachmittagsvorstellung des Films „Im Westen nichts Neues“ im Berliner Kino am Nollendorfplatz war am 12. Dezember 1930 nur schlecht besucht. Joseph Goebbels, damaliger Gauleiter von Berlin, hatte bereits öffentlich angekündigt, die Vorführungen des Antikriegsfilms nicht länger dulden zu wollen. An jenem Freitag unterbrach er mit dem Einruf, ob denn unter den Zuschauern keiner sei, der noch Nationalgefühl habe, die Vorführung, wonach sich ein Schlägertrupp der SA auf das Publikum stürzte, Stinkbomben warf und weiße Mäuse im Kinosaal frei ließ. Der Film selbst lief noch eine Weile weiter, dann stellte sich Goebbels vor die Leinwand und der Projektor wurde abgestellt. Diese Aktion war allerdings erst der Auftakt eines inszenierten Skandals, welches den Film, der bereits in der Fassung von 1930 stark zensiert und um über 30 Minuten gekürzt worden war, endgültig verbieten lassen sollte.

Inszenierte Proteste vor dem Kino weiteten sich aus, bis schließlich massiver Polizeieinsatz nötig war, um die Zuschauer vor den bis zu 6.000 Nationalsozialisten zu schützen, die gegen eine realistische Darstellung des letzten Krieges demonstrierten. Keine Woche nach dem Zwischenfall wurde der Film erneut der obersten Filmprüfstelle unter der Leitung Ernst Seegers vorgelegt. Die Gegner benutzten dabei die von ihnen selbst herbeigeführten Ausschreitungen als angeblichen Beweis der Gefährlichkeit solcher Vorführungen. Ausschlaggebend war aber das Argument des Reichswehrministeriums, die Verfilmung des Romans von Erich Maria Remarque würde das Ansehen Deutschlands im Ausland herabsetzen. Lewis Milestones Werk wurde am 11. Dezember 1930 verboten. Bilder verzweifelnder Soldaten bedrohten die Deutungshoheit derer, die schon den nächsten Krieg vorbereiteten, entschlossen den vorangegangenen noch zu übertreffen.

Eric Vuillard hat sich mit seiner Geschichtsrhapsodie eben diesem Thema angenommen, dem Problem der Erzählung und Deutung eines so komplexen und facettenreichen Zeitabschnittes wie den ersten zwanzig Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Erzählt wurde nun schon sehr viel über dieses Thema und wird es natürlich in diesem und in den kommenden Jahren noch mehr werden. Aber wie soll etwas, das nur noch aus Archiven und Geschichtsbüchern erfahrbar ist, adäquat vermittelt werden, ohne in einzelne, unverbundene Fragmente zu zerfallen oder als gesichtslose prozessorientierte Geschichtserzählung ein reines Zahlenspiel zu bleiben?

Vuillard versucht, dieses Problem mit einer epischen, betont nicht-dramatischen Erzählweise zu lösen, die es ihm erlaubt, Personen als Prototypen zu verstehen und Abstrakta zu personalisieren. So entsteht eine Geschichte, die natürlich durch den Autor geformt ist und deren narratologische Struktur nicht das Produkt der Ereignisse, sondern des Autors ist. Es ist aber Vuillards Vorsicht und Zurückhaltung zu verdanken, dass der Text dennoch weder eine kitschig-romantische Verbindung fragmentierter Details, noch eine entmenschlichende Gegenüberstellung der Verluste und Reserven an sogenanntem Menschenmaterial geworden ist. Es gibt in dieser geschickt komponierten Erzählung keinen Platz für ein nationales Bewusstsein – der Tod war in allen Uniformen der gleiche. Auch Heldentum findet sich nicht in der lakonischen Beschreibung von erschöpften Soldaten, die, zum Kriegsdienst gezwungen, im Schlamm vegetierend den nächsten Gasangriff fürchten. Vielmehr beschäftigt sich die „Ballade vom Abendland“ mit der grundlegenden Enttäuschung der Moderne: der Zerstörung Europas, die weder durch Kultur noch durch technischen Fortschritt aufgehalten werden konnte.

Es gibt zwar eine sozioökonomische Einordnung – der Krieg ist für Vuillard weder das Schicksal der Franzosen noch der Deutschen – dennoch gilt seine Zurückhaltung auch den Machthabern der Zeit, die er eher als in ihrer Ahnungslosigkeit und Überheblichkeit gefangen denn als Kriegstreiber darstellt. Es ist ein Glücksfall, dass Vuillard auf die Wirkung seiner Erzählung vertraut und damit die Deutung der Ereignisse weitestgehend dem Leser überlässt. Mit seiner menschlichen Darstellung der „Urkatastrophe des letzten Jahrhunderts“ geht er genau gegen jene Geisteshaltung an, die den Chemin des Dames 1914 zur Rollbahn werden ließ: „Diese für die Töchter eines Königs angelegte Promenade sollte eine Art schlammige Autobahn werden. Man stelle sich demnach die erschütternde Wendung der Dinge vor, das rätselhafte Leben unserer Hinterlassenschaften. Das Vergessen ist nichts, verglichen mit dieser dreisten Lästerung der Zukunft, in der nichts, wirklich gar nichts, außer Gefahr ist, sich eines Tages in sein Gegenteil zu verkehren.“„Im Westen nichts Neues“ wurde erst am 2. September 1931 in einer nochmals gekürzten Fassung wieder zugelassen. Die Störer vom Dezember 1930 stellten sich nach ihrem Überfall an der Kinokasse an, ihr Eintrittsgeld für die abgebrochene Vorführung zurückzuverlangen.

Titelbild

Éric Vuillard: Ballade vom Abendland. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Nicola Denis.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2014.
166 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783882211931

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch